Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Wirklich nur Freundschaft

  Leseprobe

Teil 1

von

Gerry Stratmann


 

 

Die Arme fest um meinen Oberkörper geschlungen stehe ich am Schlafzimmerfenster und starre ich den samtschwarzen, mit diamantglitzernden Sprenkeln übersäten Nachthimmel.

Wie heißt dieses Sternbild noch mal? Mensch, mein Kopf ist momentan nicht in bester Verfassung. Dabei habe ich schon als kleiner Junge gewusst, wie die verschiedenen Himmelskörper heißen, wie sie aussehen und wo ich die Konstellationen am Firmament suchen muss.

Ahhhh, jetzt fällt es mir wieder ein – Virgo, der lateinische Name für Jungfrau. Die hellsten Punkte stellen eine liegende Person dar.

Weiter kann ich meine Überlegungen nicht ausführen. ‚Person‘ assoziiert mein dämlicher Kopf umgehend mit ‚Mann‘.

Natürlich nicht mit irgendeinem, das wäre schließlich nicht weiter aufregend. Nein, mein Verstand schafft eine Verbindung zu genau dem Mann, an den ich nicht denken will.

Gestern, beim Einkaufen im Supermarkt, hatte ich eine Unheimliche Begegnung der Dritten Art.

Am Obststand kullerten durch meine angeborene Ungeschicklichkeit mehrere Äpfel auf den Boden. Ich bückte mich und wollte sie aufsammeln, schon knallte mein Schädel unangenehm gegen einen anderen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte ich auf, wollte mich für meine Unachtsamkeit entschuldigen und starrte in ungewöhnlich faszinierende grüne Augen.

Mein Kiefer klappte herunter und ich dürfte wohl den selten dämlichsten Anblick geboten haben, den die Welt je gesehen hat. Das Ganze dauerte nur Sekunden, doch die Erinnerung bringt mich jedes Mal aus der Fassung.

Das Gesicht des Fremden erstarrte in dem Moment, als unsere Blicke sich trafen, zu einer eisigen, abweisenden Maske. Unmutiges Schnauben erklang. Das von ihm eingesammelte Obst flog mit einer herrischen Bewegung zurück in die Auslage. Eine fließende Bewegung, schon wandte er mir den Rücken zu und verschwand mit weit ausholenden Schritten aus meinem Blickfeld.

Ich werde sein Bild nicht mehr los. Daher stehe ich die meiste Zeit verloren am Fenster und starre hinaus. Diese traumhaften Augen, das schwarze lange Haar. Er dürfte in etwa meine Größe haben und seine Kehrseite … anbetungswürdig. Die Erinnerung an den knackigen Arsch in dieser verflucht engen Lederhose … ohne Worte.

Was bringt mir das? Nichts! Ich sabbere im Geheimen einen Typen an, der bei meinem Anblick zu Eis erstarrt. Außerdem kenne ich weder seinen Namen noch weiß ich, wo ich ihn suchen soll.

Da ich manchmal seltsame Ideen habe, bin ich heute, nach der Arbeit, stundenlang durch den Supermarkt geschlichen. Selbst meine Abneigung gegen viele Menschen hat mich nicht davor zurückschrecken lassen. Das Personal beäugte mich nach einiger Zeit allerdings mehr als misstrauisch, daher machte ich lieber einen Abgang.

Das Klingeln des Telefons reißt mich aus den unfruchtbaren Überlegungen.

„Keith Baker“, melde ich mich, ohne vorher einen Blick auf das Display zu werfen.

„Hä, wie bist du denn drauf? Wirst du jetzt vornehm?“

Die Stimme meines Freundes Charly klingt irritiert. Kein Wunder, normalerweise begrüße ich ihn anders.

„Sorry, mein durchgeknalltes Hirn hat mich abgelenkt. Was gibt’s denn?“

„Mensch, Keith, morgen ist Samstag. Ich will dich daran erinnern, dass wir mit der Clique im Palais verabredet sind. Du brauchst gar nicht so tief Luft holen. Kneifen gilt nicht, sonst hole ich dich persönlich ab.“

Wah, immer diese nervenden Treffen in den angesagten Clubs. Ich hasse das. Allerdings kenne ich Charly und weiß, dass er nicht locker lassen wird. Ergeben stöhne ich.

„Ja, ich bin dabei. Aber wenn mir langweilig wird, haue ich ab.“

„Alles klar, Sturkopf. Das werden wir dann sehen. Bis morgen. Übrigens, wirf mal einen Blick auf die Uhr. Schaff deinen Arsch ins Bett. Tschöööö.“

Ehe ich antworten kann, hat er bereits aufgelegt. Dieser Spinner! Ruft mich nachts um eins an und meckert, dass ich noch wach bin. Na ja, niemand kennt mich so gut wie Charly. Der weiß, dass ich um diese Zeit noch nicht schlafe.

Das morgige Treffen lässt meinen Magen verkrampfen. Mist! Mist! Mist! Ich habe keinen Bock auf einen weiteren, an meiner Psyche zerrenden Abend.

* * * *

Missmutig treffe ich kurz nach 22 Uhr am Palais ein. Nach sechsfachen freundlichen Umarmungen, Schulterklopfen und dämlichen Sprüchen entern wir den Laden.

Zu voll! Zu heiß! Zu eng! Ständig rempelt mich jemand an. Ich verabscheue diese Nähe und ganz besonders die taxierenden Blicke. Mein Selbstschutzradar springt an. Kreuz durchdrücken, Kopf hoch und den bösen Blick aufsetzen. Eine deutliche Warnung an alle, mir bloß nicht auf den Nerv zu gehen.

„Keith, hör auf damit!“, brüllt mir Charly ins Ohr. Anders ist eine Unterhaltung bei der tosenden Lautstärke nicht möglich.

Wenn die hier wenigstens anständige Musik spielen würden. Aber nein! Der DJ legt nur Techno oder Trance auf. Etwas, das ich liebend gerne mit meinem MP3 Player, In-Ears und einer tödlich lauten Dosis Megaherz bekämpfen würde.

„Lass mich in Ruhe!“, gröle ich zurück. „Ich bin gekommen, das heißt aber nicht, dass es mir gefallen muss.“

Resigniert zuckt er mit den Schultern. Ihm wird klar sein, dass ich nicht lange bleibe. Was soll ich auch hier? Die Mucke ist Scheiße. Die Leute gehen mir auf den Geist. Eine sinnvolle Unterhaltung ist nicht möglich.

„Hallo, mein Hübscher. Dass ich dich ausgerechnet hier treffe. Wie schön.“

Bullshit! Das hat mir noch gefehlt. Ausgerechnet Cade muss mir über den Weg laufen. Ich kann diesen Kerl nicht ausstehen. Dreimal habe ich ihm unmissverständlich klar gemacht, dass mein Arsch für ihn Restricted Area ist. Anscheinend verlieren sich meine Worte in dem Hohlraum zwischen seinen Ohren. Mangels Masse ‚Betreten verboten‘, signalisiert mein Hirn. Nur mühsam halte ich meine Maske aufrecht. Jetzt zu grinsen wäre ein Fehler.

Aber hey, der giftige Blick aus meinen braunen Augen genügt heute. Er zieht den Schwanz ein und verschwindet in den wogenden Massen. Leider habe ich durch diese kurze Einlage meine Kumpels aus den Augen verloren. Böse Falle.

Allein auf weiter Flur. Nur Fremde um mich herum. Niemand, der für mich das Reden übernimmt. Ich könnte Charly erwürgen!

Ich klammere mich an meine Wut. Sie rettet mich auf dem Weg zur Theke. Unterwegs bricht mir trotzdem der Schweiß aus. Ich muss gleich mit irgendwem reden, wenn ich was zu trinken bestellen will.

Leute, die mir an die Wäsche wollen, kann ich prima abwehren, dazu brauche ich selten Worte. Alltägliche Dinge sind weitaus schwerer zu bewältigen. Einem fast unlösbaren Problem nähere ich mich gerade.

Der Barmann kennt mich vom Sehen und lächelt mir freundlich entgegen. „Wodka, wie immer?“ Fragend schaut er mich an.

Keith, mach’s Maul auf, verdammt! Der imaginäre Tritt in meinen Arsch hilft.

„Ja, aber ein Wasserglas voll. Ohne Eis.“ Kaum verständlich würge ich die Worte aus meiner Kehle.

Hat er mich gehört? Bitte, ihr Engel, Teufel oder Dämonen, was immer die Welt zusammenhält, helft mir – nur ein Mal. Puh, er hat es gerafft. Er hält ein wunderbar großes Glas in der Hand und füllt es pinnchenweise bis zum Eichstrich.

Ein teures Vergnügen, aber das ist mir die Sache wert. So muss ich keine weiteren Bestellungen aufgeben. Ich werde mir eine ruhige Ecke suchen, langsam austrinken und danach heimlich verschwinden.

Erst mal einen kräftigen Schluck und dann los. Mit dem Glas in der Hand steuere ich einen dunklen Bereich am äußersten Rand dieser großen Halle an. In den Schatten kann ich mich verkriechen. Hier bin ich sicher vor zu viel Ansprache.

Die Lider halb gesenkt, um niemanden direkt anschauen zu müssen, bin ich auf der Suche nach einem freien Stehtisch. Das Kribbeln auf meiner Haut ist mir nur allzu bekannt. Ich werde mal wieder genau beäugt.

Leute, ich weiß doch, dass ich Aufsehen errege. Meine langen Haare, die Piercings und Tattoos fallen auf. Da ich nicht gerade klein und schmächtig gebaut bin, überrage ich fast jeden. Aber müsst ihr mich deshalb anstarren? Andere sind nicht weniger auffällig, die stiert ihr auch nicht blöde an.

Na ja, vielleicht sollte ich einfach mal meine extreme Eitelkeit in eine Zwangsjacke stopfen. Aber zuhause, vor dem Spiegel, gibt es keine andere Entscheidung. Immer wieder das Gleiche. Möglichst viel Haut zeigen, enge, tief sitzende Hose, körperbetonendes ärmelloses Shirt. Sobald ich auf der Straße stehe, kommt die Reue, trotzdem kann ich mich nie dazu zwingen, es zu lassen.

Endlich entdecke ich einen freien Tisch. Ich lehne mich halbwegs entspannt mit dem Rücken an die kühle Backsteinmauer. Schatten, Schutz, trügerische Sicherheit. Noch immer ist mir viel zu heiß. Das Blut jagt panisch durch meine Adern. Erst in der Geborgenheit meiner eigenen vier Wände wird dieser Zustand abklingen.

Um mir die Zeit zu vertreiben, checke ich die Leute in meiner näheren Umgebung. Pärchen, knutschend oder herumalbernd. Größere Gruppen, die einen lustigen Abend miteinander verbringen.

Mein Herz setzt ein paar Schläge aus.

Ein einzelner Mann … strahlend in Szene gesetzt durch das Spotlight über seinem Platz. Den Ellenbogen auf die Platte des Stehtisches gestützt, bietet er auf den ersten Blick ein lässiges Bild. Seine Gesichtszüge drücken dagegen etwas völlig anderes aus. Arroganz, die durch das herablassende Lächeln auf seinen Lippen unterstrichen wird. Der Kerl aus dem Supermarkt!

Flucht! Mein erster Gedanke.

Feigling – brüllt mein Kopf.

Ich drücke mich eng an die Wand, verharre ganz still. Bloß nicht seine Aufmerksamkeit erregen. Ich möchte ihn nur anschauen. Die zwischen uns fließende magische Energie empfange ich als winzige Stromschläge auf meiner Haut.

Er ist nicht weniger auffallend gestylt als ich. Auch heute steckt er in verboten engem schwarzem Leder. Ein Longsleeve, in der Farbe seiner Iriden, gibt seiner beeindruckenden Erscheinung den letzten Kick.

Ihn starrt jedoch niemand an. Kurzer Blickkontakt, hastig gesenkte Köpfe, sofortiger Rückzug. So reagieren alle, die ihm zu nahe kommen.

Wie macht der Kerl das? Er hat es nicht nötig, die Leute minutenlang niederzustarren. Jeder einzelne Gast reagiert umgehend. Echt, er hat meine Bewunderung und ich bin verdammt neidisch.

Verflucht! Sein Kopf wendet sich in meine Richtung. Er kann mich nicht sehen. Das darf einfach nicht sein. Es ist zu dunkel hier.

Meine Haut juckt, mir wird eiskalt. Erkennen blitzt in den ungewöhnlichen Augen auf. Süffisant verziehen sich seine Lippen, die Augenbrauen fliegen fast bis zum Haaransatz, der Blick wird abfällig. Eine deutliche Warnung, sich ihm nicht zu nähern. Oh Mann, die Nummer hat er drauf. Jetzt wird mir einiges klar.

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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