Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Hardcore meets Blümchen

  Leseprobe

Le coeur d‘été

 

von

Nathan Jaeger


 

Der Urlaub

„Das ist echt mal wieder typisch! Alle gehen an den Strand und du sitzt lieber mit deinem Laptop im Hotel“, maulte sie mich an und stapfte hinaus, ohne auch nur auf meine Erwiderung zu warten.

Das tat sie zu Recht, denn ich hatte nicht vor, ihrem Ausbruch auch noch Bedeutung beizumessen. So war sie einfach, meine Schwester. Wieso sollte ich daran etwas ändern wollen?

Ich hatte den Blick nicht einmal vom Display meines Laptops erhoben, während sie losmeckerte, und widmete mich wieder meiner Konversation mit ‚JackintheBox‘ im Skype. Jack war cool, ich mochte ihn. Wir hatten uns vor Monaten über ein Technikforum kennengelernt, in dem ich eine absolut dämliche Frage zu meinem Desktop-PC gestellt hatte. Er war Admin dort und half mir, ohne sich erst einmal über meine Hardware-Unkenntnis totzulachen.

Zumindest glaubte ich das, denn er hatte ganz gelassen und ohne Hohn geantwortet und meinen PC vor einem Dauerschaden bewahrt. Ja, ich war schon immer ein DAU (Dümmster anzunehmender User), aber das machte mir nichts. Wenn ich Hilfe brauchte, wusste ich ja, wo ich sie finden konnte.

Jack und ich kamen in näheren Kontakt, tauschten Messengerdaten und unterhielten uns oft via Headset und Internettelefonie.

„Mann, deine Schwester nervt echt“, drang seine Stimme nun über die Kopfhörer zu mir. Ich grinste.

„Ja, tut sie, aber immerhin belässt sie es beim Meckern.“

„Besser so.“

„Wenn meine Eltern wüssten, dass ich den von ihnen spendierten Urlaub im Hotelzimmer verbringe, würden sie durchdrehen. Zumindest, wenn ich ihn mit meinem Lappi verbringe …“

Jack lachte. „Du meinst, mit einer Urlaubsbekanntschaft und ohne Lap wäre es ihnen recht?“

„Absolut.“

„Dann wäre es wohl besser, du suchst dir jemanden.“

Ich lachte nervös auf. „Klar doch, wo ich ja so ein kontaktfreudiger Mensch bin. Never!“

„Ich mein’s ernst, übrigens … das W-Lan funktioniert auch auf der Sonnenterrasse.“

Ich stutzte. Was hatte er da grade gesagt? Eine seltsame Mischung aus Angst und Vorfreude kroch in meinen Magen und brachte einen Schweißausbruch mit sich.

„Was meinst …?“, fragte ich endlich.

„W-Lan? Das solltest du aber mittlerweile kennen. Wie würdest du ohne den Hotspot des Hotels denn sonst mit mir reden können?“

Ein weiteres nervöses Lachen. „Ja, schon klar, ich meinte das andere …“, murmelte ich und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich von der Sonnenterrasse dieses Hotels gesprochen hatte.

„Nuscheln ist uncool! Falls du es beim Einchecken nicht bemerkt hast: Das Hotel hat eine Sonnenterrasse und da wirst du mit Sicherheit auch Internet haben.“

Ich schluckte noch einmal, dann klappte ich den Laptop zusammen, der dank Jacks Hilfe nicht mehr in Stand-by ging, wenn ich das tat, und marschierte zur Zimmertür.

„Na gut, wenn du meinst“, sagte ich und verließ in Shorts, T-Shirt und Flip-Flops mein Bollwerk der schattigen Ruhe. „Solange ich dich in der Leitung habe, brauche ich ja mit niemandem zu reden …“

Er lachte fröhlich auf und hatte ein paar beruhigende Worte für mich, während ich mir den Weg durch das Hotel zur Terrasse am Pool bahnte.

Als ich dort ankam, wurde es schwer, ihn noch zu verstehen. Die Geräuschkulisse in der Nähe des riesigen azurblauen Schwimmbeckens war enorm. Ich suchte mir einen möglichst weit vom Kindergeschrei entfernten Tisch. Er war weiß und hatte einen Sonnenschirm in der Mitte. Trotzdem würde ich auf dem Display des Laptops nichts erkennen können, also ließ ich ihn zugeklappt und seufzte auf, nachdem ich mich auf einen der Stühle gesetzt hatte.

„Mann, ich verstehe dich immer noch voll schlecht, Jack!“, jammerte ich und drehte den Lautstärkeregler am Headsetkabel weiter auf. „Hier sind so viele Menschen, ich mag Menschen nicht!“

„Du wirst es schon überleben. Ich muss kurz AFK, hältst du es drei Minuten aus?“

Sein beinahe besorgter Ton war zugleich irritierend und angenehm. Ich musste echt jämmerlich geklungen haben. „Ja, kein Problem, lass dir Zeit“, sagte ich, um das letzte Fünkchen meiner Selbstachtung zu behalten.

Jack war der Einzige, der von meiner Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen und meiner Angst vor Menschenmengen im Besonderen wusste. Niemals hatte ich jemand anderem davon erzählt. Gesegnetes Internet, es hatte mir mit seiner anonymen Kommunikation neue Welten eröffnet.

Ich lehnte mich zurück, gab mir Mühe, mich zu entspannen und sah dem lauten, chaotischen Treiben am Pool zu. Die drei Minuten waren längst rum, oder nicht?

Ich klappte hektisch den Laptop auf und versuchte zu erkennen, ob die Verbindung über Skype noch bestand. Ich atmete erleichtert auf, die Leitung war nicht tot, Jack war nur noch nicht zurückgekommen. Ich drückte das Display wieder herab und lehnte mich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück in den Stuhl. Ein Lächeln glitt über mein Gesicht, ich dachte an Jack – naja, an wen auch sonst?

Wir unterhielten uns seit Monaten, manchmal, eigentlich an jedem Wochenende, lief die Skype-Verbindung vom Aufwachen bis zum Einschlafen, nur unterbrochen von den Mahlzeiten und Badezimmerbesuchen.

Jack war zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden, ohne dass ich ihn jemals persönlich getroffen hätte. Ich kannte genau ein Foto von ihm, auf dem er eine alberne, viel zu große Sonnenbrille in Pink und einen Strohhut mit einem kompletten Obstkorb darauf getragen hatte, und seine Stimme. Mehr nicht. Und trotzdem war er mir näher als irgendein anderer Mensch auf diesem Planeten.

Ich seufzte und dachte daran, wie schwer mir die letzten Wochen des Schuljahres gefallen waren. Lästig, nervtötend. Während des Unterrichts konnte ich schließlich nicht telefonieren. Aber das ging ihm wohl genauso, denn wann immer ich aus der Schule nach Hause kam und den PC hochfuhr, wartete er schon im Skype auf mich.

Ich schluckte. Eine warme Welle durchlief mich, dann berührte mich jemand an der Schulter und ich schrie erschrocken auf, während ich herumfuhr.

Für Gemecker oder eine scharfe Zurechtweisung fehlten mir die Worte. Ich hasste es, angefasst zu werden, noch dazu von Fremden.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte mein Gegenüber, nachdem es um meinen Stuhl herumgekommen war. Ich sah zu ihm auf.

Er war groß, trug Badelatschen, Schwimmshorts und eine Sonnenbrille. Sein dunkles Haar stand wirr in alle Richtungen und, das musste ich zugeben, er gefiel mir.

„Schon okay, solange es nicht noch einmal vorkommt“, brummelte ich und dachte, das Gespräch sei damit beendet. Deshalb lauschte ich weiterhin auf die statische Stille in den Kopfhörern und wandte mich ab. Wann kam Jack denn endlich zurück?

„Störe ich?“, fragte der Typ und setzte sich ungefragt auf einen der freien Stühle.

„Um ehrlich zu sein: ja. Ich bin beschäftigt“, gab ich zurück und sah wieder in eine andere Richtung.

„Weißt du, bisher dachte ich, dein Menschenhass sei, zumindest zum Teil, eine Masche …“

„Wie bitte?“, fragte ich verdattert und zog langsam das Headset herab, bis der Metallbügel in meinem Nacken lag.

„Naja, ich dachte, so schlimm wird’s schon nicht sein, aber offensichtlich fühlst du dich hier wirklich unwohl.“

„J-j-j-jack?“, stotterte ich und blinzelte.

„Richtig.“ Er nickte übertrieben und sein Lächeln wurde breiter.

„Wie …? Ich meine, …!“, begann ich und merkte selbst, dass ich gerade das idiotischste Gestammel meines Lebens von mir gab.

„Nachdem du mir erzählt hattest, wie euer Hotel heißt, habe ich meinen Vater überredet, mir zur Feier meiner Noten einen Urlaub zu spendieren.“

„Aha“, machte ich und fluchte innerlich.

Er lachte. „Hey, komm mal wieder auf den Teppich, wir kennen uns jetzt seit fast einem halben Jahr und ich bin nicht ganz so fremd wie der Rest hier.“

Ich nickte zögerlich. Er hatte ja recht! „Dann … bist du meinetwegen hierher gekommen? Einfach so?“

„Wegen dir, ja, einfach so, nein. Ich wollte dich kennenlernen. Ich meine, so richtig.“

Klang toll, fand ich, aber gleichzeitig tobte in mir ein Orkan an Widersprüchlichkeiten. Allen voran Angst und Zweifel, dicht gefolgt von Freude und dem schleichenden Gefühl, den Verstand verloren zu haben.

Ich ertappte mich dabei, verblödet in seine Richtung zu grinsen und nahm die Sonnenbrille ab. Wenn er mir schon gegenübersaß und nicht wie sonst hunderte Kilometer entfernt vor einem anderen Computer, wollte ich ihn auch richtig ansehen können.

Er tat es mir gleich und legte seine Sonnenbrille vor sich auf den Tisch. Das strahlende Grün seiner Augen ließ mich tatsächlich kurzfristig vergessen, dass ich mich in der Öffentlichkeit befand. Jacks Blick bohrte sich tief in meinen und ich starrte mit offenem Mund zurück.

„Kennenlernen …“, brachte ich hervor. „Dann aber ganz von vorn.“

Er runzelte die Stirn, bis sie in Dackelfalten lag. Sexy, dachte ich. Jack, alias JackintheBox, war gnadenlos sexy.

Als er abwartend schwieg, streckte ich meine leider fürchterlich zittrige Hand über den Tisch und sagte: „Salut, ich bin Julien Ledoux.“

Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, während er meine Hand nahm und sie leicht schüttelte. „Salut, ich bin Jacques Beauchamps. Da wir das nun geklärt hätten, was hast du heute noch vor?“

„Ach nein, mein Brüderchen hat es endlich geschafft, aus dem Zimmer zu kommen und auch gleich noch jemanden kennengelernt?“

Hastig zog ich meine Hand aus Jacks zurück und versuchte, meine Schwester im Wirrwarr rund um den Pool zu erkennen.

„Yvette“, zischte ich und hoffte, dass sie schnell wieder abhauen würde. Immerhin hatte sie in weiser Voraussicht ihre beste Freundin Chantal mitgenommen, weil ihr langweiliger Bruder kein geeigneter Urlaubspartner war.

„Bleib ruhig“, sagte Jack und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Salut, ich bin Yvette. Willst du deinen Urlaub wirklich mit diesem Langweiler verbringen?“, fragte sie Jack und ich spürte, wie ich zuerst rot anlief und dann zusammensank. Yvette hatte ja recht. Ich war ein Langweiler, noch dazu ein Menschenfeind und ganz sicher das absolute Gegenteil von einem Partylöwen. Trotzdem, dieses miese Verhalten von ihr …

„Das“, begann Jack und lächelte meine Schwester nonchalant an. „… ist allein meine Sache.“

Wow, niemand fertigte meine Schwester so ab, immerhin arbeitete sie nach der Schule als Model! Doch Jack tat es und ich blinzelte, bevor ich ihre Reaktion beobachtete.

„Wie du meinst“, erwiderte sie schnippisch und sah sich höchst betont nach Chantal um, die soeben auf unseren Tisch zukam.

„Salut Julien, salut Fremder“, grüßte sie und reichte Yvette ein Glas mit eisgekühlter Cola.

„Salut“, sagten Jack und ich stereo, dann nahm ich meinen Laptop, zog das Headset vom Hals und verstaute beides unter dem Arm.


 © Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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