Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Valentine 3 - Gewolltes Glück

  Leseprobe


~ Gedankensalat ~

Wahnsinn, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe, wieder mehr Zeit mit Kilian zu verbringen, und vor allem daran, ihm jeden Morgen noch vor der Arbeit oder Therapie die Hunde vorbeizubringen.

Shadow hat ihre Ressentiments gegenüber Kilian endgültig abgelegt und sieht mich nicht mehr jedes Mal fragend an, bevor sie zu ihm geht.

Bei Gogo war das ja sowieso nie ein Problem, der kleine Draufgänger mit dem Übertreibungsnamen hatte sich von Anfang an Kilian ausgesucht, nicht mich.

Mittlerweile hört er sogar noch besser als sonst. Kilian muss viel mit ihm geübt haben, aber dazu hatte er ja auch allerhand Zeit in den letzten sieben Tagen …

Ich kichere leise und bin gespannt, ob Gogo demnächst auch meine Klamotten klauen wird, um sich daraufzulegen. Bisher macht er das nur bei Kilian, was ja irgendwie noch mal die erste Wahl des kleinen Kerlchens unterstreicht.

Ich schätze, wenn es nach ihm ginge, wäre es am besten, wenn wir alle vier irgendwo zusammen lebten.

Tja … Ich verziehe den Mund. Die Wunde in mir schreit kreischend auf und lässt mich zusammengekrümmt zurück.

Ich frage mich, ob das jemals besser werden wird …

Gerade eben habe ich meine Racker wieder bei Kilian abgeliefert. Ihn jeden Tag zu sehen, ist verrückt und toll und so irrsinnig schmerzhaft zugleich.

Ich reiße mich wieder zusammen und fahre zur Gemeinschaftspraxis, in der Doktor Pförtner vormittags ausgewählte Patienten übernimmt.

Wann werde ich endlich kapiert haben, dass ich Kilian trauen kann? Dass sein Wegrennen in Hamburg eine vollkommen nachvollziehbare Handlung war? Dass es mich eher hätte wundern sollen, wenn er geblieben wäre, nachdem er erfahren hat, wer und was ich früher war?

Ich seufze, weil mir klar wird, dass nicht sein Weggang in Hamburg, sondern sein Weggang wenig später in Weidenhaus der Auslöser für mein Misstrauen war.

Die Trennung.

Mit ihr hat er mich in die Hölle geschickt.

Ohne Gebrüll, ohne Streit, ohne eine echte Auseinandersetzung!

Hm, diese zorngeprägten Konfrontationen hat er jetzt woanders …

Mir macht seine Unausgeglichenheit große Sorgen, ich habe Angst, dass er sich noch in eine massive Schlägerei verwickeln lässt, nur weil er dringend eine gänzlich andere Behandlung benötigt.

Sie mag durchaus Schläge beinhalten, nein, sie mag nicht, sie muss, wenn ich bedenke, wie er derzeit drauf ist …

Ob er überhaupt begriffen hat, dass die Not, die er gerade erleidet, zu meinem gegebenen Versprechen gehört?

Ich kann sie lindern, ihm wieder inneren Frieden schenken, und das sollte ich auch sehr bald machen, selbst wenn er nicht von sich aus danach fragt.

Kilian braucht diese körperliche und sexuelle Unterwerfung so dringend, dass es mir wehtut, ihn in diesem Zustand vollkommenen Chaos’ zu sehen.

Vielleicht sollte ich das Dilemma, in dem er sich befindet, einfach durch eine von mir angeordnete Session beenden?

Ich will es nicht bestimmen müssen und hoffe immer noch, dass er von sich aus danach fragen wird.

Aber ich weiß genau, er will mir das nicht aufbürden, dabei denke ich, komme ich damit deutlich besser zurecht als er.

Davon abgesehen …

Nein, bevor ich das weiter zerdenke oder mich meiner eigenen Sehnsucht nach Sex oder körperlicher Nähe endgültig hingebe, muss ich mich auf etwas anderes konzentrieren.

Am besten auf die Therapie!

~*~

Als ich knappe zehn Minuten mit dem Doc in der Gesprächsecke sitze und – wieder einmal – über meine Ängste bezüglich Kilian rede, lässt er einen Löffel auf den Tisch fallen.

Das Scheppern erschreckt mich halb zu Tode und ich fasse mir reflexartig an die Brust, während mein Kopf zu ihm hochfährt. Normalerweise starre ich beim Reden eher in meinen Kaffeebecher oder auf meine Füße.

Er sieht mich lauernd an, seine schwarzen Augen glühen förmlich.

„Was … ist?“, frage ich, weil er sich nicht für den Schreckmoment entschuldigt, sondern einfach dasitzt und abwartet.

Ich werde den Verdacht nicht los, dass er mich aus der Fassung bringen wollte!

„Herr Moss, wir sitzen hier seit sechs Monaten dreimal in jeder Woche und reden über Ihre Probleme. Dabei stelle ich fest, dass sich nichts, absolut gar nichts an Ihrem Verhalten oder Ihrer Herangehensweise geändert hat. Sie sind nach wie vor festgefahren in Ihren Vorstellungen, gefangen in Ihren Ängsten und Nöten. Erklären Sie mir das bitte mal.“

Seine Stimme, die so tief und voll klingt, hat einen grollenden, regelrecht bedrohlichen Unterton angenommen.

Ich schlucke trocken. „Was meinen Sie?“, frage ich verständnislos.

„Ich meine“, setzt er an und grollt wieder so unheimlich, „dass Sie auch nach all diesen Stunden in diesem Raum noch nicht einmal vollständig mit der Wahrheit herausgerückt sein können. Was wir besprechen, sind Beziehungsprobleme, deren Ursprung ganz sicher nicht in der Trennung zu Ostern begründet liegt. Es gab ein Vorspiel und jede Menge Dinge, die bereits lange davor stattgefunden haben müssen.“

Ich schlucke erneut, weiß nicht, was ich darauf erwidern soll.

„Wir sind hier, weil Sie verarbeiten wollen, was immer geschehen ist. Ich weiß von den Überfällen, von Ihrem Leben als Callboy und Dom in Hamburg, aber ich weiß nicht, wieso der letzte Überfall und alles danach Ihnen offensichtlich diskussionswürdiger ist, als die Dinge, die dahin geführt haben. Sie belügen sich selbst, Sie belügen mich. Und ehrlich, meine Zeit ist knapp und kostbar, es gibt Patienten, die meine Hilfe nicht nur wollen, sondern auch annehmen und nutzen. Diese Menschen vertrauen darauf, dass ich ihnen helfen kann. Sie dagegen wollen einfach festgefahren das ewig Gleiche diskutieren und kommen dabei keinen Millimeter von der Stelle. Ich im Übrigen auch nicht, was mich mittlerweile enorm frustriert.“

Ich seufze und nicke zögerlich. „Es tut mir leid“, sage ich und meide seinen Blick. „Es gibt da tatsächlich einiges, aber es erscheint mir so viel einfacher, mich um aktuelle Probleme zu sorgen, anstatt um Dinge, die längst geschehen und vorbei sind.“

„So. Sind sie das? Vorbei?“, fragt er mit einem so wissenden Ton, dass ich ihn doch ansehen muss.

Meine Schultern heben sich, fallen kraftlos herab. Scheiße, er hat mich regelrecht eingeschüchtert mit seinem Wissen über mich!

„Ich hatte es zumindest gehofft.“

Er schnaubt missbilligend. „Wie wäre es, wenn Sie jetzt endlich mal vorn anfangen?“

Ich trinke einen Schluck Kaffee und nicke ergeben. „Kann ich machen.“

„Ich bitte darum!“ Nein, seine Worte sind keine Bitte. Aber das ist wohl in Ordnung so, schließlich will er mir ja helfen.

„Die Anfänge kennen Sie, und ich habe Anfang des Jahres alles aufgeschrieben, was seit meinem Umzug nach Hamburg passiert ist. Nicht haarklein, aber doch die wichtigen Eckpunkte, habe dabei versucht, alles zu reflektieren. Nicht nur aufgeschrieben, sondern auch drüber nachgedacht, mich und mein Handeln hinterfragt.“

„Und?“, erkundigt er sich neugierig.

„Na ja, ich war in den vergangenen zwölf Jahren irgendwie eine Art gefühlloses Monster …“, beginne ich und erkläre, erzähle, schildere … bis er mich unterbricht.

Die ersten Jahre sind abgehandelt, mittlerweile habe ich meine erste Dienstwohnung, bessere Kundschaft, habe Stefan kennengelernt und befinde mich in der Ausbildung in Sachen BDSM.

„In Ordnung, lassen Sie uns da einmal einhaken. Sie sprechen davon, im Alter von 22 Jahren bereits einmal überfallen worden zu sein.“

„Ja. Der Typ war verliebt in mich und weil ich ihn nicht wollte, hat er sich genommen, was er wollte.“

„Sie drücken das so herrlich neutral aus“, sagt er und klingt ironisch-anerkennend. „Schon mal darüber nachgedacht, dass nicht nur Ihre Höhenangst, sondern auch Ihre massive Angst vor Emotionen eine Folge dessen war?“

Ich stutze. „Aber …? Ich bin doch verliebt!“

Er lächelt schief und nickt. „Ich weiß, aber die Blockade, die Sie seit damals in sich tragen, weil Sie gesehen haben, wie ein verliebter Mensch vollkommen absurd und unkontrollierbar reagieren kann, sitzt noch immer tief in Ihnen. Sie haben es verdrängt, aber niemals verarbeitet oder gar überwunden, so behandelt worden zu sein, nur weil jemand Sie geliebt hat.“

Ich atme tief durch. „Meinen Sie? Ich dachte immer, ich hätte daraus gelernt, dass Gefühle nichts bringen, dass sie mir das Geschäft versauen und mich einschränken könnten. Ich wollte nie eine Beziehung, weil ich Kontrolle und Grenzen für meine Freiheit befürchtet habe.“

„Klingt, als wäre alles ineinander verzahnt. Sie haben die eine Seite gesehen, die andere nicht. Das ist ein sehr menschliches Denken, das ich Ihnen auch sicher nicht verübeln werde. Aber es ist etwas, an dem wir arbeiten sollten.“

Ich fasse mir ein Herz und erzähle ihm von dem Diebstahl der Datei und der Veröffentlichung des Buches.

Seine Augen werden immer größer, dann lodern sie wieder und ich habe schon Angst, dass er gleich Rauchwolken aus Nasenlöchern und Ohren ausstößt.

„Hölle noch eins, Sie haben aber auch wirklich Pech, wenn es um diese Sache geht!“, entfährt es ihm.

„Allerdings. Aber die Sache läuft schon seit einer Weile. Ich habe meine Arbeitskollegin angezeigt und die Kripo hat alle nötigen Beweise bei ihr gefunden. Das Buch ist ziemlich erfolgreich. Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, wie viel Kohle sie mit meinem verkorksten Leben gemacht hat …“

„Nun ja, das Geld wird Ihnen letztlich zustehen. Was würden Sie damit tun, wenn Sie es hätten?“

„Keine Ahnung, vielleicht verbrennen“, zische ich im ersten Reflex. Bisher habe ich darüber nicht nachgedacht, auch wenn Lasse da eine klare Idee hatte. „Nein, ich schätze, ich würde es spenden oder einfach weglegen. Ich habe mit Sicherheit immer eine gewisse Geldgier besessen, aber der Gedanke, dass mein Leben derart viel einbringen kann, nur weil mir schlimme Dinge passiert sind, ist irgendwie morbide.“

„Das kann ich nachvollziehen. Aber ich möchte Ihnen raten, sich genau zu überlegen, was damit geschehen soll. Letztlich ist es Ihre Geschichte, Sie haben sie verfasst, dafür bezahlt zu werden, ist sicherlich zunächst nichts Schlechtes. Ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt.“

„Hm“, mache ich. „Aktuell interessiert mich das nicht. Ich weiß nur immer noch nicht, ob ich will, dass es vom Markt genommen wird.“

„Wenn alle Namen geändert sind, besteht wohl keine akute Gefahr für Sie, zumal ja nicht Ihr Wohnsitz als Adresse im Impressum steht, wie Sie sagen.“

„Stimmt.“

Wir reden noch fünf Minuten, dann ist die Therapiestunde vorbei und ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, weil er mich so angemeckert hat, oder wütend auf mich, weil ich mich offensichtlich mit den falschen Baustellen beschäftigt habe.

~*~

Im Büro ist es ungewöhnlich still, als ich ankomme, und mir fällt auf den ersten Blick auf, woran das liegt.

Linda muss hier gewesen sein, denn ihr Schreibtisch sieht jetzt, abgesehen von Tastatur und Maus, absolut ungenutzt aus.

Keine Bilderrahmen mehr, keine Tüte mit Lutschbonbons, keine Taschentuchbox.

Irgendwie stört es mich, aber ein Teil von mir hat auch ziemlich hämische Gedanken. Eine Mischung von Erleichterung und Wehmut erfüllt mich. Ich mochte Linda immer sehr gern, und auch heute hasse ich meine frühere Kollegin sicher nicht, aber ich kann auch nach wie vor nicht gutheißen, was sie getan hat.

„Hat sie irgendwas gesagt?“, frage ich Bernhardine und Hilke, sobald ich einen Kaffee vor mir stehen habe.

Bernhardine seufzt. „Sie hat geheult und gesagt, wie leid ihr alles tut.“

Ich schnaube bösartig weil mein Zorn über Lindas Handeln nun doch überwiegt. „Ach, echt? Das hätte sie sich vielleicht vorher überlegen sollen“, schimpfe ich.

„Ja, hätte sie“, klinkt sich Hilke in das Gespräch und kommt sogar aus ihrem Büro.

Ich mustere sie, meine Chefin sieht wirklich nicht glücklich aus.

„Es tut mir leid, dass du deshalb nun so viel Zusatzstress hast, Hilke. So war das ganz sicher nie beabsichtigt“, sage ich leise.

Sie lächelt schief. „Du konntest doch nicht ahnen, dass sie so was machen würde. Ich hätte niemals damit gerechnet, immerhin kenne ich sie seit Jahren!“

„Ich frage mich die ganze Zeit, wieso sie es nach dem Klauen und Lesen unbedingt noch veröffentlichen musste. Ich meine, sie konnte nicht ahnen, dass es so ein Bestseller wird, oder?“, sinniere ich.

„Ich schätze, sie war selbst davon überrascht. Haben dir die Kommissarin oder ihr Kollege nichts gesagt? Bei denen müsste sie doch längst alle Aussagen gemacht haben.“ Bernhardines Einwurf lässt mich aufsehen.

„Ich bekomme nur wenig Info. Die ermitteln wohl noch irgendetwas“, erwidere ich und seufze frustriert. „Vielleicht muss ich da mal anrufen?“

„Na los, schnapp dir das Telefon und frag nach“, verlangt Hilke.

Ich nicke mechanisch, nehme aber mein Handy und das Headset.

Nur eine Minute später lege ich wieder auf.

Frau Sommers ist in einer Besprechung, wurde mir mitgeteilt. Sie meldet sich, wenn sie Zeit hat.

In der Mittagspause telefoniere ich kurz mit Stefan, damit er weiß, dass ich okay bin.

Anschließend rufe ich Allen an und erkläre ihm, dass ich, irgendwann in der kommenden Woche nach dem Kürbisfest, kurzfristig einen Salon im Club brauchen werde.

Er fragt natürlich, wieso, aber ich behalte meine Pläne vorerst für mich, was er glücklicherweise akzeptiert und mir zudem zusichert, dass jederzeit irgendein Salon frei sein wird. Wie er sagt, im Zweifelsfall die Suite, die normalerweise nur Ryan und er nutzen.

Ich vermute sogar, er ahnt, was ich im Schilde führe. Allen hat ein Gespür dafür, um das ich ihn hin und wieder wirklich beneide.

Vielleicht hat er es entwickelt, weil er als Besitzer des Clubs noch mal mehr Verantwortung trägt als ein ‚normaler‘ Dom?

Unwichtig, jedenfalls bewundere ich ihn für diesen Weitblick und seine schnelle Auffassungsgabe, wenn es um die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen geht.

Nach dem Feierabend, der sich freitags auf 15 Uhr verschoben hat, hole ich die Hunde bei Kilian ab und mache mich auf den Heimweg, ohne dass wir noch eine gemeinsame Runde um den Aasee drehen.

Ich muss zusehen, dass ich nach Sporken komme, um beim Aufbau für das morgen startende Kürbisfest zu helfen!

~*~

Die Hunde bleiben im Garten, während ich zum Dorfplatz gehe und mich den anderen Helfern anschließe. Da Frau Sommers sich bisher nicht gemeldet hat, habe ich den Stecker im Ohr, um ihren Anruf mitzubekommen.

Lasse, Dion, Siggy und ich stapeln, nachdem Joshua, Clemens und Raphael mit verschiedenen Traktoren große runde und eckige Strohballen platziert haben, die in Körben und Holzkisten bereitstehenden Kürbisse möglichst dekorativ auf und an den Stroh-Kunstwerken.

Da gibt es etliche Figuren aus zwei liegenden und einem darauf stehenden runden Ballen. Die Dorfjugend verschönert die Gebilde, die auch an allen Ortseingängen auf den an die Straße grenzenden Wiesen stehen, mit Gesichtern und Kleidung aus unterschiedlich gefärbten Folien.

Wir sind im gesamten Dorf unterwegs, um überall mit anzupacken, aber letztlich bleibt unsere Hauptaufgabe das Drapieren der Kürbisse auf den eckigen Strohpyramiden, die den Dorfplatz schmücken sollen.

Dion macht sich gerade auf den Weg, die Figuren an den Ortseingängen zu knipsen, deshalb hieven Lasse und ich nun mehr oder minder allein die Flaschenkürbisse aus der vor uns stehenden Holzkiste.

„Hast du dir überlegt, was du wegen des Buches machst?“, fragt er leise und sieht sich immer wieder absichernd um.

Ich hebe die Schultern und lasse sie sinken. „Ich weiß es nicht. Denkst du, man erkennt mich oder gar Weidenhaus aus dem Text?“

„Nein, ganz sicher nicht“, behauptet er. „Und … ich habe lange drüber nachgedacht, ob ich mich so weit einmischen darf, aber … ich habe beschlossen, es dir auf jeden Fall zu sagen.“

„Was denn?“, frage ich neugierig.

„Na, dass du das Ding auf keinen Fall vom Markt nehmen lassen darfst!“

„Aha? Und wieso nicht?“

Er lächelt schief und reicht mir den nächsten Kürbis, den ich verblödet festhalte, ohne mich weiter zu bewegen. Wie kommt er denn plötzlich darauf?

„Das Buch hat aktuell eine Bekanntheit, die sich überwiegend auf die bisherige Leserschaft erstreckt. Natürlich empfehlen es viele weiter, habe ich ja auch gemacht, aber es bleibt eben bei einem eingeschränkten Personenkreis, da Nicht-Leser wohl nicht so viel davon mitbekommen. Wenn du nun aber hergehst und es vom Markt nehmen lässt, gerichtlich oder polizeilich ist dabei schon egal, werden sich die Medien drauf stürzen und Fragen stellen. Bislang ist es eine Biografie, von der niemand weiß, ob sie wirklich echt sein kann. Aber in dem Moment, in dem du sie aus dem Verkauf nehmen lässt, wird die Sache noch mal viel interessanter für alle.“

„Du meinst, gewisse Zeitungen und so würden sich darauf stürzen?“, hake ich nach.

Er nickt heftig. „Glaub mir, wenn das Buch, das seit Wochen die Ranglisten beherrscht, plötzlich verschwindet, wird jeder glauben, es hat einen sehr wahren Kern. Und durch die Magazine und Tageszeitungen wird ganz sicher ein Riesenhype daraus. Jeder wird es haben wollen, um selbst herauszufinden, was daran wahr sein könnte. Und dabei könnten eben auch diese Mistschweine aus Hamburg darauf aufmerksam werden. Selbst wenn sie sonst nicht lesen. Um gewisse Blättchen kommt man ja nicht einmal beim Bäcker herum.“

„Hm“, mache ich. „Du dürftest recht haben. Den Verkauf abrupt einstellen zu lassen, würde echt mehr Aufmerksamkeit und vor allem Neugierde wecken.“

„Ja, eben! Glaub mir, du willst nicht, dass der investigative Journalismus sich an die wenigen Spuren heftet. Der Impressumsdienst unterliegt nicht gerade einer Schweigepflicht, wenn du verstehst …“

„Scheiße, Mann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich dieses Buch loswerden würde, aber was du sagst, ist logisch. Ich darf auf keinen Fall riskieren, dass meine Freunde oder meine Familie doch noch da mit reingezogen werden.“

Lasses Einblicke, die er mir bietet, ergeben tatsächlich sehr viel Sinn. Die Vorstellung, dass sich plötzlich noch weitere Teile der Bevölkerung für das Buch interessieren, lässt mich schaudern und ich muss die aufsteigende Panik mit ein paar zwanghaft tiefen Atemzügen niederkämpfen.

Was, wenn durch eine Löschung des Buches auch die Leute rund um Peter Danic aufmerksam werden? Er mag der Kopf der vier sein, aber er ist ein kleines Licht im Vergleich zu jenen, die im Hintergrund die Fäden ziehen und mich unter Druck setzen wollten.

Wir arbeiten schweigend weiter, weil ich echt nachdenken muss.

Als Frau Sommers um 18 Uhr endlich anruft, klingt sie müde und abgeschlagen.

„Herr Moss, ich glaube, es wäre gut, wenn Sie am Montag im Revier vorbeikämen. Wir müssen diese Dinge in Persona besprechen“, sagt sie, als ich mich nach dem Ermittlungsstand erkundige.

„Ist in Ordnung, wie spät soll ich da sein?“, frage ich.

„So gegen Mittag?“, schlägt sie vor und ich stimme zu.

Nachdem wir das Gespräch beendet haben, frage ich mich, wieso sie mir nichts sagen wollte und beschließe, einfach bis Montag zu warten.

Kommt meiner Vogel-Strauß-Mentalität ganz gelegen, muss ich zugeben.


 



~ Schmerztarif ~

Das erste Kapitel macht seinem Namen alle Ehre.

Ich will Spaß!

Dieser Ty Balton ist mir ja ein nettes Früchtchen. Zieht mit sechzehn Jahren wegen seiner Ausbildung nach Berlin und hat nichts Besseres zu tun, als möglichst schnell alles, was einen Schwanz hat und nicht bei drei auf dem Baum sitzt, zu vernaschen.

Klar will man in diesem Alter seinen Spaß haben, vor allem, wenn niemand da ist, dem man Rechenschaft über sein Verhalten ablegen muss. Aber dieser Ty lässt wirklich gar nichts anbrennen.

Wenn man der Beschreibung seines Äußeren Glauben schenken darf, sieht er verdammt lecker aus, was ihm die Sache natürlich erleichtert. Aber er entwickelt bereits nach kurzer Zeit eine Kaltschnäuzigkeit, die ich nicht nachvollziehen kann. Auch wenn er sich manchmal toppen lässt, investiert er kein bisschen Gefühl. Ihm geht es um die reine Triebbefriedigung.

Als er dann auch noch diesem Falko begegnet, der ihn auf den Trichter bringt, sich den Spaß bezahlen zu lassen, wird sein Benehmen immer arroganter. Er ist unglaublich von sich überzeugt, hält sich praktisch für ein Geschenk Gottes an die Männerwelt.

Sein gutes Aussehen verschafft ihm diverse Jobs als Model, die er seinen Eltern gegenüber als Ausrede nutzt, wieso er sich ein teures Auto und extravagante Klamotten leisten kann.

Bereits mit zwanzig hatte er einen festen Kundenstamm, der es ihm finanziell ermöglichte, sich eine ‚Dienstwohnung‘ zuzulegen. Dadurch konnte er seiner Kundschaft wesentlich mehr Anonymität bieten, was ihn in die gehobeneren Kreise aufsteigen ließ. Er hatte es nicht mehr nötig, jeden, in seinen Augen dahergelaufenen Freier, zu bedienen.

Inzwischen zählten Richter, Staatsanwälte, Firmeninhaber und Manager zu seinen Kunden.

Ich brauche erst mal einen frischen Kaffee. Hennes hat recht, das Buch ist wirklich nicht schlecht, aber der Autor schafft mich. Wenn das wirklich eine Biografie ist, kann ich nur sagen, als Mensch finde ich den Typen unsympathisch.

Arrogant, selbstherrlich, absolut furchtlos und streitsüchtig. Sobald ihm jemand in die Quere kommt, kauft er sich diese Person und macht sie verbal platt.

Ty ist für mich ein selbstverliebter, überheblicher Arsch, dazu noch unglaublich geldgeil.

Da es Zeit fürs Abendessen ist, ich aber unbedingt weiterlesen will, mache ich mir nur einen Naturjoghurt mit frischen Apfelstückchen fertig. Mit Kaffee, meinem Futter und einer neuen Schachtel Kippen setze ich mich an den Tisch im Wintergarten.

Der nächste Kapiteltitel löst ein komisches Gefühl in mir aus.

Der Verliebte und der Kran

Wie schlimm es war, wenn sich ein Freier in mich verliebte, habe ich anfangs nicht begriffen. Zumindest nicht sofort, weil ich einfach Null Plan von dieser ominösen Sache namens ‚Liebe‘ hatte.

Klar wusste ich, wie verliebt meine Eltern miteinander umgingen, aber ich persönlich hatte bis dahin so gut wie keine Erfahrungen auf dem Gebiet.

Wollte ich auch nicht, schließlich hätte ein fester Freund oder eine Beziehung immer meinem Zweitjob im Weg gestanden.

Als der verliebte Bauunternehmer zu aufdringlich, zu nervig wurde, habe ich den Kontakt zu ihm beendet und ihm gesagt, dass ich nicht mehr zur Verfügung stehe.

Wie konnte der Mann sich erdreisten! Ungläubig schüttle ich den Kopf. Nicht zu fassen, warum hat er mit dem Armen nicht geredet und ihm freundlich erklärt, dass das Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruht? Hätte ich auf jeden Fall netter gefunden, als ihn eiskalt abzuservieren.

Er nahm es ganz gut auf – dachte ich.

Bis zu der Nacht, in der ich splitterfasernackt aufwachte und nicht wusste, wo ich war.

Mir war kalt, es war windig.

Ich stand auf und sah mich um – eine Scheißidee. Ich war noch viel zu benommen.

Das änderte sich schlagartig, als ich begriff, wo ich mich befand.

In luftiger Höhe, die leider schwankte und mich hart gegen das halbhohe Geländer eines eiskalten Metallkorbes warf.

Irgendwie habe ich es fertiggebracht, mich festzuklammern, sonst wäre ich einfach in die Tiefe gestürzt – was dem Plan desjenigen, der mich hierher gebracht hatte, wohl am nächsten gekommen wäre.

Den Löffel Joghurt, den ich mir gerade in den Mund geschoben habe, spucke ich zurück in die Schale und schiebe sie weit von mir.

Das ist jetzt …

Nein, das kann nicht sein!

Ich wische mir den Mund ab und lese nervös weiter.

So hockte ich zitternd in einer Ecke des Krankorbes, in dem man mich entsorgt hatte. Ich fand meine Kleidung in der Dunkelheit und zog sie mühevoll an, während der Kran durch den herrschenden Wind immer wieder heftig durchgeschüttelt wurde.

Gibt es solche Zufälle?

Ich schüttle den Kopf, reibe mir über die Augen, lese den Absatz noch mal. Meine Magenschmerzen machen sich vehement bemerkbar. Ich kann es nicht glauben, will es auch nicht.

Vielleicht irre ich mich ja, also weiter.

Es dauerte schier ewig, bis mir klar wurde, dass ich von dort wegkommen musste. Irgendwie.

Also richtete ich mich vorsichtig wieder auf und sah mich erneut um.

Der Korb war an vier Stahlseilen befestigt, die sich, eine knappe Armlänge über mir, in der Schlaufe eines einzelnen anderen Stahlseiles vereinten. Ich konnte die Schlaufe erreichen und mich hochziehen, keine zwei Meter darüber befand sich das stählerne Gestell des Auslegers und nachdem sich meine Augen endlich an die diffuse Dunkelheit der Berliner Nacht gewöhnt hatten, entdeckte ich auch den Kranturm, der glücklicherweise nur ein paar Meter weit weg war.

Ich musste klettern, mich über den Ausleger hangeln, am Turm entlang nach unten kommen. Irgendwie.

In der ganzen Zeit dachte ich nicht eine Sekunde darüber nach, wie ich dorthin gekommen war, wer mir das angetan hatte.

Ich kletterte und kletterte, klammerte mich bei Windböen an allem fest, was ich zu fassen bekam, und schaffte es glücklicherweise mit sehr wackeligen Knien, unten anzukommen.

Wo war ich? Ich lief auf die nächstgelegene Reihe Straßenlaternen zu, stolperte über Sandhügel und Kieshaufen, bis ich herausfand, dass ich am Westhafen war.

Ich hatte erwartet, ich konnte nicht genau sagen wieso, auf einer Baustelle gewesen zu sein.

Erst später fand ich heraus, wieso ich so dachte.

Der Heimweg kam einer Flucht gleich. Ich hatte kein Geld und keine Papiere bei mir, meine schicke Jacke, die ich eigentlich am Abend angezogen hatte, war auch nicht wieder aufgetaucht, und mir blieb nichts anderes, als nach Hause zu laufen.

Unterwegs wurde mir schlecht, ich übergab mich, musste pausieren, und wählte schließlich einen anderen Weg, um in eine Klinik zu gelangen.

Wolfs Schilderung des ersten Überfalls hatte fast den gleichen Wortlaut. Spinne ich? So was gibt’s doch nicht, zwei identische Vorfälle. Ich brauche mehr Info.

Dort angekommen, erzählte ich, was ich wusste.

Ich wurde sofort untersucht und man stellte fest, dass ich neben der starken Unterkühlung auch mehrere Prellungen und vor allem Verletzungen am Anus aufwies.

Ich versuchte, mich zu erinnern, aber alles, was mir einfiel, war mein abendlicher Besuch in einem Privatclub, in dem ich regelmäßig neue Kunden fand und hin und wieder auch mit Stammkunden etwas trank.

Der Filmriss, den ich offenbar hatte, ließ sich nicht durch Alkohol erklären, denn ich wusste genau, wie viel ich vertrug.

Der Bluttest im Krankenhaus ergab Reste von GHB, auch bekannt als Liquid Ecstasy, und geringe Mengen Alkohol.

Nein! Bitte nicht!

Damit stand fest, irgendjemand hatte mich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt.

Ich hatte nur keine Ahnung, wer!

Da ich die restliche Nacht und zwei weitere Tage im Krankenhaus bleiben musste, brachte Falko mir Wäsche und Toilettenkram, und wir versuchten gemeinsam zu rekonstruieren, was geschehen war.

Ich hatte den Verliebten in jenem Privatclub getroffen, wir hatten zusammen etwas getrunken und dann … wusste ich nichts mehr.

Mein Körper hat sich dagegen an alles erinnert.

An zahlreiche Schläge, Bisse, den unfreiwilligen Sex.

Falko wollte, dass ich Anzeige erstatte – ich wollte es einfach nur vergessen.

Das fiel mir nicht so leicht, wie ich es gern gehabt hätte, denn auch wenn ich weitere Treffen mit dem Bauunternehmer tunlichst vermied, blieb etwas zurück, das mich stets an mein Erwachen im Krankorb erinnerte.

Ich konnte nicht einmal mehr auf einen Stuhl steigen, weil mir sofort schwindelig wurde und ich das Gefühl hatte, in eine bodenlose Tiefe stürzen zu müssen. Höhe war absolut tabu geworden.

Früher liebte ich Karussells, je höher, desto besser. Heute macht mir ein Mäuerchen an einem Vorgarten schon Angst.

Dieses Gefühl verstärkte sich, wenn Kälte hinzukam, so dass ich im Winter noch größere Probleme hatte als sonst.

Fassungslos starre ich auf meinen Kindle. Höhenangst. GHB. Die Verletzungen. Hennes hat gesagt, dieser Ty wäre auch ein Pay-Dom.

Ist dieses Buch die Lebensgeschichte von Wolf?

Quatsch! Kann nicht sein. Er hat mir immer wieder gesagt, es wäre viel zu gefährlich, wenn irgendjemand erfahren würde, was in Hamburg passiert ist. Dann ist er doch nicht so dämlich, ein Buch darüber zu schreiben.

Mein Kopf spielt mir da einfach einen Streich, weil es in dieser Krangeschichte zu viele Übereinstimmungen gibt.

Wirklich nur in dieser Szene?

Der kleine Teufel in meinem Hirn legt schon wieder Feuer, aber er hat recht.

Wolf ist auch mit sechzehn von zu Hause weggegangen. Sein Pick-up hat ein kleines Vermögen gekostet und sein Lebensstil zeigt deutlich, dass er nicht allein von dem Gehalt lebt, das er im Schreibbüro verdient.

Bevor ich allerdings erneut anfange, ihm Dinge zu unterstellen, die sich später als Irrtum erweisen, lese ich lieber weiter.

Die nächsten Kapitel beinhalten die Ausbildung des Autors zum Dom. Freunde haben ihm alles beigebracht, was er wissen musste und haben ihn auch den Umgang mit den unterschiedlichen Gerätschaften und Spielzeugen gelehrt.

Mir fallen ständig neue Parallelen zu Wolf auf. Schließlich hat er mir auf mein Nachfragen erzählt, dass Stefan und Lukas seine Neugier in Sachen BDSM gestillt und ihm einiges beigebracht haben.

Das Einzige, was überhaupt nicht zu Wolf passt, ist der Charakter dieses Ty.

Seine Gedankengänge, wenn er die Sehnsüchte eines Subs stillt, sind dermaßen kalt und höhnisch, dass mir leicht übel wird. Für ihn sind die Kunden nur Mittel zum Zweck. Er erfüllt ihre Wünsche ohne die geringsten emotionalen Regungen. Benutzt ihr Bedürfnis nach Hingabe und Unterwerfung, um seine Macht zur Schau zu stellen und seine finanzielle Gier zu befriedigen.

Eins muss man ihm lassen, er erledigt seinen Job vorbildlich, verletzt niemanden, fängt seine Kunden nach der Session auch auf, aber eben völlig leidenschaftslos.

So habe ich mein Wölfchen nie erlebt. Egal, ob es um Situationen im Alltag oder eine Session ging, er war nie herablassend oder gönnerhaft. Im Gegenteil, ich kenne niemanden, der so körperbetont und kuschelwütig ist wie er.

Ty beschreibt auch Begegnungen mit Sexpartnern, die er sich selbst ausgesucht hat und mit denen er ohne Bezahlung in die Kiste hüpft.

Ich habe erwartet, dass er dabei mehr empfindet – weit gefehlt. Ihm geht es rein um die Befriedigung seiner Lust.

Selbst die expliziten Beschreibungen dieser sexuellen Akte rufen in mir nicht die geringste Erregung hervor.

Ist es wirklich möglich auf diese Art Erfüllung zu finden? Ich kann und will mir das gar nicht vorstellen. Für mich wäre es ein Ding der Unmöglichkeit und ich mag nicht glauben, dass Wolf es irgendwann mal konnte.

Ich brauche eine Pause. Am Tisch zu essen ist ja ganz bequem, aber wenn ich zu lange unbeweglich hier sitze, wird es ungemütlich. Ich nehme die Schale mit dem Joghurtrest und meinen Kaffeebecher mit in die Küche. Während die Maschine einen frischen Muntermacher produziert, nutze ich die Gelegenheit, kurz im Bad zu verschwinden.

Anschließend haue ich mich mit allem, was ich brauche, auf die Sonneninsel und widme mich erneut dem Buch.

Die Überschrift ‚Anfang vom Ende‘ impliziert, dass es jetzt spannend wird.

Nach der Beschreibung einer Session geht Ty nach Hause und macht sich ausgehfein, um seinen Freund in dessen Club zu besuchen. Auf dem Weg dorthin wird er Zeuge eines brutalen Überfalls. Vor seinen Augen wird ein Mann zusammengeschlagen. Brutal, ohne einen Funken Mitleid. Man bricht diesem Menschen mehrere Knochen, tritt ihm mit schweren Stiefeln gegen den Kopf.

Ty kann sich nicht rühren, obwohl er weiß, wie gefährlich es für ihn werden kann, wenn die Täter seine Anwesenheit bemerken. Er ruft die Polizei, um den Überfall zu melden.

Tief im Innern befürchtet er, dass das Opfer, falls es überleben sollte, für immer ein Krüppel sein wird.

Während er mit dem Mann in der Notrufzentrale spricht, erkennt er einen der Schläger im Licht einer Straßenlaterne und es ist für ihn zu spät. Man hat ihn entdeckt. Er rennt um sein Leben. Nach der erfolgreichen Flucht wirft er sich vor, dämlich und größenwahnsinnig gewesen zu sein.

Wow! Ich liebe blutige Krimis und Thriller, dabei handelt es sich aber um Fiktionen. Solch eine Situation live mitzuerleben, ist ’ne ganz andere Nummer.

Mein Bauchgefühl will mich davon abhalten, weiterzulesen, aber das kann ich nicht zulassen. Ich muss wissen, ob der leise Verdacht, der sich in meinem Hinterstübchen einnistet, wirklich richtig ist.

Außerdem interessiert mich, wie die Täter sich Ty gegenüber verhalten. Er ist schließlich ein unliebsamer Augenzeuge.

Hochmut kommt vor dem Fall

Keine Woche später standen zwei von ihnen vor dem Portal des Hauses, in dem sich meine inzwischen dritte, äußerst exklusive Dienstwohnung befand. An dem Portier in der Eingangshalle wären sie nicht vorbeigekommen, ohne dass der Mann die Polizei gerufen hätte.

Ich schätze, allein meine Freundschaft zu Stephen hat mir in dem Moment den Arsch gerettet.

Zumindest beinahe, denn anstatt sich mein Schweigen auf irgendeine Art zu erkaufen, setzten sie mich unter Druck.

Sie forderten, das muss man sich mal vorstellen!, meine komplette Kundenkartei!

Ich weiß noch genau, ich habe sie ausgelacht. Habe ihnen erklärt, dass ich genau wüsste, was sie getan hatten, und sie sehr vorsichtig sein sollten, wem sie drohen und wen sie erpressen wollten.

Bilde ich mir das nur ein, oder ist das jetzt das Vorspiel zu einem Überfall?

Zu einem Überfall, von dem ich schon gehört habe und dessen Auslöser ein gefährliches Geheimnis birgt?

Mit zittrigem Finger wische ich zur nächsten Seite.

Drei Monate lang versuchten sie es immer wieder. Bei einem ihrer letzten Besuche brachten sie einen mir unbekannten Kerl mit, der mir befahl, Videos meiner Kunden aufzunehmen, natürlich in eindeutigen Situationen.

Obwohl er mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich mich im Falle einer Weigerung mit sehr mächtigen Leuten anlegen würde, die absolut keinen Spaß verstünden, lachte ich ihn ebenfalls aus, wies ihn darauf hin, dass ich Verbindungen zu den höchsten Regierungskreisen hätte, die solche Vögel wie ihn und seine Bosse schnell aus dem Verkehr ziehen könnten.

Mein Standing in Berlin war eindeutig zu gut, als dass sie etwas hätten riskieren können – dachte ich.

Ich dachte es bis zum sechsten September des vergangenen Jahres.

„Nein!“, schreie ich und pfeffere den Reader in die nächste Ecke.

Schmerzhaft wird mir mit einem Schlag klar, dass alles, was ich bisher nicht wahrhaben wollte, jetzt zu absoluter Gewissheit geworden ist.

Es ist Wolfs Lebensgeschichte. Nachdem er mir gesagt hat, wie lange es her ist, dass man ihn überfallen und missbraucht hat, habe ich das genaue Datum errechnet.

Jetzt kann ich keine Ausreden mehr finden, muss akzeptieren, was er war.

Callboy, Pay-Dom und eine Person, die mir absolut fremd ist.

Mir tut alles weh und ich krümme mich auf der Liege zusammen.

Liebe ich einen Mann, der noch perfider vorgeht, als Paul es je getan hat?

Ich kann und darf das nicht glauben, nicht, ohne mit Wolf gesprochen zu haben. Es ist unmöglich, dass er sich so verstellen kann. Außerdem hat ihm die Beziehung zu mir doch keinerlei Vorteile gebracht, noch nicht mal einen finanziellen – worauf Ty ja immer fixiert war.

Überhaupt … Ty Balton – mit meinem jetzigen Wissen dauert es nur noch Sekunden, ehe es mir wie Schuppen von den Augen fällt.

Wolfs dritter Vorname ist Tybalt, daher stammt die Ableitung des Autorennamens.

Hat er wirklich alles gefickt, was ihm vor die Flinte kam?

Wieso stelle ich mir so eine dämliche Frage?

Die Bestätigung habe ich schließlich schwarz auf weiß vor der Nase. Außerdem habe ich ihn als jemanden kennengelernt, den ich nicht groß zu einer heißen Nummer überreden musste. Dazu brauche ich mir nur unseren ersten Fick ins Gedächtnis zu rufen.

Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich damals seine heftigen Anfeuerungen ziemlich merkwürdig fand. Jetzt erklären sie sich von selbst.

Aber der Wolf, den ich kenne und liebe, hat absolut nichts mit Ty Balton gemein. Ich habe echt keinen Schimmer, wie ich diese so widersprüchlichen Individuen unter einen Hut bringen soll.

Mühsam rapple ich mich hoch, gehe ins Bad und werfe mir kaltes Wasser ins Gesicht. Nur mit äußerster Anstrengung kann ich mich davon abhalten, meinem blassen, verstört wirkenden Abbild im Spiegel in die Fresse zu schlagen. Meine innere Unausgeglichenheit macht sich mit voller Wucht bemerkbar, raubt mir für einen Moment den Atem.

Statt Kaffee sollte ich mir lieber Baldrian intravenös zuführen, damit ich den Rest dieses Buches noch überstehe.

Buch! Allein dieser Gedanke reicht, um mich noch wütender zu machen.

Warum konnte er mir nicht sagen, was diese Wichser von ihm wollten, wenn er es jetzt der halben Welt erzählt? Angeblich wollte er durch sein Schweigen doch jeden schützen, den er liebt, weil es für alle zu gefährlich wäre, die Wahrheit zu kennen.

Ich will schreien, zu Wolf fahren, ihn schütteln, bis er mir den ganzen Scheiß erklärt. Eigentlich habe ich gedacht, ich kenne ihn, aber das war wohl ein großer Irrtum.

Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass es noch viel zu früh ist, um nach Sporken zu fahren. Erst fünf Uhr.

Verdammt, dann ziehe ich mir eben noch den Rest rein, ehe ich Wolf umbringe.

Ich krabble auf allen vieren auf dem Boden rum, bis ich meinen Kindle finde und mich damit an den Tisch setze.

Während sie mich quälten, mich mit Schmerz konditionierten, erhielt ich die Drohungen, die ich auch heute bis ins Mark fürchte.

Sie erzählten mir von einem Kollegen, Kevin, von dem ich wusste, dass er schlimm verstümmelt und beinahe umgebracht worden war, von dessen Lebenspartner, der sich ‚erhängt‘ hatte, von seiner Großmutter, die in ihrer Wohnung überfallen worden war … Jeden seiner sozialen Kontakte hatten sie auf die eine oder andere Art bedroht, verletzt oder getötet, um Kevin zum Schweigen zu bringen.

Ich weiß nicht, was aus ihm wurde, aber ich weiß, dass er nie zu den Bullen gegangen ist.

Manchmal denke ich, er hätte es tun sollen, aber dann wieder frage ich mich, wieso ich selbst es nicht getan habe, und mir wird bewusst, dass die Unversehrtheit meiner Familie und Freunde mir zu wichtig war – und noch ist.

Niemals werde ich die tatsächlichen Geschehnisse irgendjemandem verraten.

Viel zu gefährlich für die, die ich liebe.

Ich will mir nicht ausmalen, was es in mir auslösen könnte, wenn sie meine Mutter so erledigen würden, wie sie es mit Kevins Freund getan haben.

Ich wusste immer, es war keine Selbsttötung, sondern ein eiskalter, sehr gut getarnter Mord.

Sonst hätten die Bullen doch besser ermittelt, oder nicht?

Nein, ich muss bekennen, dass ich durch meine langjährige Tätigkeit sehr genau weiß, dass ich den Behörden nicht trauen kann. Wie viele Anzeigen von Bekannten sind im Sande verlaufen, weil nicht weiter ermittelt werden konnte?

Ich weiß es nicht mehr, aber ich weiß, dass diese miesen Typen sehr gut organisiert sind, und es fertigbringen, keine Spuren zu hinterlassen.

Was er hier schreibt, lässt mich nachvollziehen, warum er niemandem von dieser furchtbaren Sache erzählt hat. Trotzdem erklärt sich mir damit nicht das Erscheinen des Buches.

Weiter im Text. Mir wird mit einem Schaudern bewusst, dass ich jetzt lesen muss, was man Wolf wirklich angetan hat.

Auf dem Weg von der Dienstwohnung nach Hause wurde er überfallen, mit irgendwelchen Drogen gefügig gemacht und an einen menschenleeren Ort geschleppt.

Dort wurde er brutal zusammengeschlagen und getreten. Als er am Boden lag, hielt man ihm eine Waffe an die Schläfe und riss ihm die Klamotten vom Leib. Während zwei dieser widerlichen Wichser ihn aufs Kreuz geschmissen und seine Beine so in die Luft gezogen haben, dass ihn ein dritter ficken konnte, hat der vierte ihm die Waffe in den Mund gesteckt und abgedrückt. Der Typ hat was von ‚russischem Roulette‘ gefaselt und gehässig gelacht.

Ich zucke heftig zusammen, kann nicht weiterlesen, meine Tränen lassen den Text verschwimmen.

Als mich Pauls Helfershelfer misshandelt haben, bin ich vor Angst fast gestorben, aber was Wolf durchgemacht hat, kann ich kaum nachvollziehen. Was einem wohl durch den Kopf geht, wenn jemand eine Waffe abdrückt?

Für mich unvorstellbar. Er muss durch die Hölle gegangen sein.

Auf dem Tisch liegt eine Packung Papiertaschentücher. Ich schnappe sie mir, wische mir die Augen trocken und lese weiter.

Die Kerle haben ihn der Reihe nach vergewaltigt, dabei hatte er immer die Waffe im Mund, wartete darauf, dass wieder einer von den Irren abdrückt. Nachdem sie ihn sich alle einmal vorgenommen hatten, war seine Tortur noch nicht zu Ende. Mit einer Flasche, einem Besenstiel und einem Schlagstock haben sie ihn abwechselnd weiter penetriert.

Er hatte wahnsinnige Schmerzen, nicht nur durch das brutale Eindringen in seinen Körper, auch durch mehrere gebrochene Rippen, die ihn bei dieser beschissenen Haltung kaum Luft holen ließen.

Irgendwann wurde den Scheißkerlen langweilig. Sie schlugen und traten noch mal auf ihn ein und ließen ihn dann hilflos zurück. Erst im Krankhaus wachte er wieder auf und erfuhr, dass Passanten ihn gefunden und einen Krankenwagen gerufen hatten.

Die von dem behandelnden Arzt benachrichtigten Polizisten mussten unverrichteter Dinge wieder gehen, da Wolf behauptete, hinterrücks überfallen worden zu sein und die Gesichter seiner Peiniger auch später nicht erkannt zu haben, da es zu dunkel war.

Mir ist kotzübel, ich zittere vor aufgestauter Wut, weiß grad nicht, wohin mit mir. Ich springe auf und tigere durch die Wohnung, um mich wieder in den Griff zu bekommen.

Wie konnte ich Wolf auf dem Frühlingsdom einfach mit diesen gefährlichen Mistkerlen allein lassen? Er muss nach dieser Begegnung völlig fertig gewesen sein. Auch wenn er seine Freunde um sich hatte – ich war nicht da, um ihn zu trösten, um ihm durch eine Umarmung Sicherheit zu geben.

Das werde ich mir niemals verzeihen.

Für mich grenzt es inzwischen an ein Wunder, dass Wolf mir eine zweite Chance gibt, obwohl ich ihn so schmählich im Stich gelassen habe.

Ticke ich noch ganz richtig? Ich freue mich immer noch über unseren Neustart, obwohl ich im Laufe der Nacht erfahren habe, dass er mich, was seine Vergangenheit betrifft, von vorne bis hinten belogen hat.

Hm, belogen hat er mich eigentlich nicht, er hat es schlicht und ergreifend verschwiegen.

Ein albernes Kichern entkommt mir.

Ich war mit dem teuersten Callboy von Hamburg liiert, wenn es stimmt, was er von sich behauptet. Ist das zu fassen? Ausgerechnet ich! Ein Kerl, für den Treue und Vertrauen das Wichtigste überhaupt sind.

Na ja, die Vertrauensklamotte habe ich inzwischen revidiert und an Wolfs Treue habe ich bisher keine Sekunde gezweifelt. Kann ich es mit meinem jetzigen Wissen immer noch? Ich weiß es echt nicht. Das muss ich mir überlegen, wenn ich mit ihm gesprochen habe.

Er kann sich darauf verlassen, dass ich mich nicht wieder abwimmeln lasse. Wenn er jetzt nicht reinen Tisch macht, dann muss ich wirklich versuchen, ohne ihn zu leben.

Dieser Gedanke ernüchtert mich und ich setze mich hin. Der Reader sagt, ich habe noch mindestens zweieinhalb Stunden Lesezeit vor mir. Ich bin gespannt, was noch kommt, da er ja kurz nach dem Überfall umgezogen ist.

Genau das schildert er jetzt.

Ab der Hälfte des Buches kam mir die Ausdrucksweise des Autors streckenweise vertraut vor, doch jetzt bin ich absolut sicher, dass Wolf der Erzähler ist.

Ty Baltons Gefühlsleben war mir fremd, doch je weiter dieses Kapitel fortschreitet, desto klarer wird der Autor zu Wolf.

Seine Unsicherheit bei vielen Begebenheiten, seine Angst, seine Schreckhaftigkeit kommen deutlich zum Vorschein. Selbst wenn er zu Anfang noch arrogant wirkt, denkt er über seine Mitmenschen inzwischen viel mehr nach.

Mir bleibt die Spucke weg.

Unsere erste Begegnung auf der Kirmes. Seine Beschreibung meines Äußeren lässt mich kurz kichern, da diese Person keinerlei Ähnlichkeit mit mir aufweist. Kim, so nennt er mich, ist für ihn Sex auf zwei Beinen. Finde ich höchst informativ, allerdings hadere ich mit dem Gedanken, in einem Buch verwurstet zu werden.

Was mein mieses Gefühl sofort wieder wettmacht, sind seine Überlegungen zu meiner Person, als wir zu unserem ersten Kirmesbummel aufgebrochen sind. Obwohl ich mich wie ein Arsch benommen habe, sind seine Gedanken über mich ganz anderer Natur.

Es ist ausgesprochen interessant zu verfolgen, wie er sich gegen jede Gefühlsregung wehrt. Wie er alles falsch auslegt, was ihn zu mir zieht. Aber von einem Mann, der nie verliebt war, darf man auch nichts anderes erwarten.

Speziell wenn wir Sex hatten, wurde seine Wesensänderung deutlich sichtbar. Obwohl er immer versucht hat, mich als Kunden oder einfachen One-Night-Stand zu sehen, haben ihm seine Empfindungen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Es gab nicht eine Gelegenheit, bei der er abwertend über mich gedacht hat, im Gegenteil.

Mich überläuft urplötzlich ein Schauer, weil mir etwas auffällt, das einfach unglaublich ist.

Wolf hat mich immer wieder in seine Wohnung gelassen, ohne mich groß zu kennen. Wir hatten unglaublich harten, ruppigen Sex. Auch wenn ich ihn manchmal mit zu schnellen Bewegungen erschreckt habe, hatte er nie wirklich Angst vor mir. Was mich allerdings restlos erschüttert, ist, dass er sich mir nach seinen grauenhaften Erlebnissen überhaupt hingeben konnte.

Immerhin habe ich ihn dominiert, Gehorsam verlangt und ihn oft ganz schön hart rangenommen.

Ich muss wissen, ob er das auch aufgeschrieben hat und wie er sich dabei gefühlt hat.

Es ist fast schmerzhaft zu lesen, wie sehr er mir vertraut hat, dass er in keiner Sekunde etwas Negatives über mich gedacht hat. Im Gegenteil, er erwähnt immer wieder, wie geborgen er sich in meinen Armen fühlte, wie dringend er das brauchte.

Dazwischen spricht er immer wieder davon, für mich nicht gut genug zu sein, bezeichnet sich selbst als hässlich, zumindest innerlich.

Sicher, Ty, der Callboy, war kein wirklich liebenswerter Zeitgenosse, aber Wolf Moss ist es zu hundert Prozent. Wobei Ty kein schlechter Mensch war, er besaß ein großes Unrechtsbewusstsein und war seinen Freunden gegenüber absolut loyal und hilfsbereit. Trotzdem will ich diese Seite von Wolf niemals kennenlernen.

Ich lese lieber weiter. Wenn ich schon die Gelegenheit bekomme, in Wolfs Kopf zu gucken, dann nutze ich sie auch dreist.

Muss ich mich für meine Neugier schämen? Ich finde nicht, immerhin hat er dieses Buch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er hätte damit rechnen müssen, dass ich es irgendwann entdecke.

Die intimen Einblicke, die ich erhalte, lösen sehr zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits will ich vor Liebe vergehen, weil seine Gedanken und Überlegungen seine tiefe Zuneigung zu mir bezeugen, bereits zu Zeiten, als er sie sich selbst noch nicht eingestehen konnte. Andererseits bin ich sauer, weil er so viel über unser Privatleben ausplaudert. Dinge, die ich selbst Nik niemals erzählen würde, weil sie einfach nicht für fremde Ohren bestimmt sind.

Trotzdem versöhnen mich die nächsten Passagen wieder. Wie viele Gedanken er sich gemacht hat, um mir geben zu können, was ich brauche. Er hat mich unglaublich einfühlsam und geduldig ans Ziel geführt. Seine Spiele waren immer darauf ausgerichtet, mein Vertrauen in ihn zu stärken, damit ich mich am Ende ohne Angst fallenlassen konnte.

Was ich hier lese, besagt eindeutig, dass er nie Hintergedanken hatte, er wollte immer nur, dass es mir gut geht. Ich habe schon wieder einen Grund, mich bei ihm zu entschuldigen, weil ich ihm in Gedanken so oft unrecht getan habe.

Die folgenden Kapitel enthalten nur noch Szenen, die ich miterlebt habe. Sie allerdings aus seinem Blickwinkel zu betrachten, macht sie unsagbar spannend.

Von Tys Kaltschnäuzigkeit findet sich keine Spur mehr. Auch während unserer Sessions existiert nur noch mein liebevolles Wölfchen, selbst wenn er harsche Befehle erteilt. Er genießt es, Macht über mich zu haben, aber seine Liebe ist in jedem Wort, jeder Handlung und ganz besonders in seinen Gedanken spürbar.

Im letzten Kapitel stoße ich auf einen Absatz, der mir erneut die Tränen in die Augen treibt.

Nie hätte ich erwartet, dass eine so oft, zu so unterschiedlichen Gelegenheiten ausgeführte Tätigkeit, wie das Ficken eines Mannes, etwas so Außergewöhnliches sein könnte.

Ja, klingt vollkommen verkitscht, aber so meine ich es nicht.

Was Kim mir an Hingabe, Vertrauen und Liebe entgegenbrachte, wenn ich meinen Schwanz in ihn schob, mich in ihm bewegte, ihn um mich spürte und mich mit ihm gemeinsam immer höher trieb, war schlicht von einer nie dagewesenen Intensität.

Ich würde behaupten wollen, dass die reine Handlung nicht mehr das Entscheidende war, auch wenn sie als Mittel zum Zweck diente.

Entscheidend war einzig und allein das Gefühl, das mich beherrschte, das Gefühl, das Kim mir von sich zeigte und gab.

Es machte nicht einfach Spaß, ihn zu nehmen, es war pure, reine Erfüllung, es zu tun!

Keine Ahnung, wie lange ich hier sitze und es immer wieder lese. Eigentlich brauche ich den Text nicht mehr, ich kann ihn bereits auswendig. Mit jedem Wort dehnt sich mein Herz weiter aus, zerschmettert den Stahlpanzer in winzig kleine Atome.

Ich will jubeln, weil ich denke, dass es doch noch ein WIR für uns geben kann. Lange hält dieser Überschwang nicht an, da sich der fiese Teufel wieder zu Wort meldet.

Was ist mit Ty? Gibt es ihn nicht mehr oder taucht er eines Tages wieder auf?

Was ist mit all den Sachen, die er verschwiegen hat?

Was ist mit diesen Gangstern, die ihm auf den Fersen sind?

Eines weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit, den Ty aus Hamburg will ich nicht kennenlernen. Ich kann ihn nicht leiden, diesen arroganten Arsch.

Wie ich damit umgehen soll, dass Wolf ein Callboy und Pay-Dom war, weiß ich echt nicht. Klar, es ist seine Vergangenheit, die kann er nicht ungeschehen machen, aber wird es auch Vergangenheit bleiben? Vielleicht stellt er irgendwann fest, dass ich ihm nicht genüge, dass er Abwechslung braucht.

Ich frage mich auch, was passieren wird, wenn ihn seine Verfolger eines Tages finden. Bringen sie ihn um? Bringen sie uns vielleicht alle um?

Seine Freunde, seine Familie, mich.

Angedroht haben sie es ihm.

Dieses Buch fordert solch ein Szenario doch förmlich heraus. Auch wenn sämtliche Orte und Namen geändert sind, bleiben die Drohungen und der Überfall unverändert.

Verdammt! Was hat der Kerl sich nur dabei gedacht, sein Leben so in Gefahr zu bringen?

Ich muss zu ihm.

Wolf muss es mir erklären und dann werde ich ihn zu Micha schleppen, damit er Anzeige gegen diese Flachwichser erstattet. Mich hat er schließlich auch so lange bearbeitet, bis ich es getan habe.

Schneller als der Schall bin ich im Bad. Duschen, Zähne putzen, rasieren. Ab in irgendwelche Klamotten, Kippen, Brieftasche, Autoschlüssel und los.

Es ist kurz vor zehn, als ich vor Wolfs Haustür stehe und Sturm schelle.


 © Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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