Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Jahreszeiten Winter

  Lesprobe

Winterwundergarten

von

Nathan Jaeger


 

Vorwort

Der Winterwundergarten ist eine kleine, unabhängige Fortsetzung zu ‚Schneeseelen‘.

Man muss die dort erzählte Vorgeschichte nicht kennen, um die hier vorliegende Geschichte zu verstehen.

Wer allerdings mehr wissen möchte, sollte sich selbst den Gefallen tun, und zuerst ‚Schneeseelen‘ lesen.

Viel Spaß!


Donnerstag

Wie macht man einen Heiratsantrag?

Ich meine, schon klar, Ring besorgen, schöne Location, Kniefall …

Aber … wie bringe ich es über die Lippen?

Mein sehnlichster Wunsch verbindet sich automatisch mit der größten Panik vor Zurückweisung, die ich jemals verspürt habe.

Opa würde mir jetzt helfen, das weiß ich genau!

Ich vermisse ihn derzeit noch mehr als an jedem anderen Tag seit seinem Tod im vorletzten Sommer. Er hat mir immer zur Seite gestanden, mich beraten, ohne mir seine unendliche Lebensweisheit wie eine einengende Manschette umzulegen. Hat zugehört, meine Ängste beruhigt, meine Zweifel besänftigt, mein Selbstbewusstsein durch seinen unerschütterlichen Glauben in mich und meine Fähigkeiten verstärkt.

Dass ich schwul bin, hat ihn nie gestört.

Als ich es ihm gestanden habe, hat er mich grinsend angesehen, mir die Hand auf die Schulter gelegt und zugedrückt.

Sein Kommentar: „Wenn du mal gescheit bist, Junge!“

Oh ja, mein Grinsen ging sicherlich von Ohr bis Ohr. Er hat recht behalten, wahre Liebe gibt es – für mich! – nur unter Männern.

Nein, falsch, mit einem ganz bestimmten Mann. Was mich wieder in meine Unsicherheiten zum Thema Heiratsantrag katapultiert …

Ein schweres, kellertiefes Seufzen erfüllt das riesige Studio, welches das komplette Dachgeschoss des Reihenhauses einnimmt.

Die Schrägen sind frisch mit hellem, beinahe fugenlosem Holz vertäfelt, die Giebelseite besitzt eine gigantische, dreieckige Fensterfront, die viel Licht einlässt.

Der Blick nach draußen über das offene Feld, eigentlich eine große Wildwiese mitten in einem Wohngebiet, offenbart derzeit keine unterschiedlichen Grüntöne mit sattbunten Wildkrautansammlungen. Stattdessen sehe ich eine endlos erscheinende weiße Schneedecke, durchbrochen von verschieden hohen Grasbüscheln und kleinen Trampelpfaden der Hunde nebst Besitzer.

Dazu gehöre auch ich!

Mein Blick gleitet hinter mich zum Treppenaufgang. Er ist abgegrenzt von einem silbrig-metallenen Gittergeländer, welches U-förmig vor Abstürzen schützt und auf der linken Seite bis fast zur Schräge reicht. Dahinter, auf Decken und gemütlich eingerichtet, schläft mein Neufundländer Herr Leopold den Schlaf der Gerechten.

Es ist 14 Uhr und er hat sein Mittagessen und die Tageslichtrunde hinter sich. Nun genießt er ganz offensichtlich die Ruhe bis zum Rattenauslauf und dem Abendessen.

Mein Lächeln wird breiter, kann die Nervosität meiner Überlegungen jedoch nicht vertreiben. Meine Handflächen sind schwitzig, ich habe keine Ahnung, wie oft ich sie schon an meinen Jeans abgestreift habe. Es macht keinen Unterschied.

Nichts will ich so sehr, wie diese Frage zu stellen. Ihn fragen, ob er auf ewig der Meine sein will. So wie ich mir nichts sehnlicher wünsche, als auf ewig der Seine zu sein.

Färben meine Geschwister doch so langsam ab?

Meine ältere Schwester Mara und mein Bruder Marlon sind schon etwas länger verheiratet, nun ja, in Maras Fall ist das Thema bald erledigt. Sie lebt seit einem Dreivierteljahr, getrennt von ihrem Mann, mitsamt ihrer mittlerweile zwei Kinder, wieder bei meinen Eltern.

Die kleine Anna ist erst vier Monate alt, ihr älterer Bruder Marco immerhin schon vier. Ich bin zum ersten Mal Patenonkel geworden, was mich ehrlich gesagt wahnsinnig gefreut hat.

Wieder schweift mein Blick zur Fensterfront. In drei Tagen ist der erste Advent und das Haus muss noch mit zahlreichen Lichtern eingeweihnachtet werden.

Vielleicht wäre es schön, wenn hier an der Giebelseite eine lange Reihe von beleuchteten Eiszapfen angehängt wird?

Ich muss darüber mal mit ihm reden …

Ich schlucke. Gleich nachdem ich mir darüber klargeworden bin, wie ich es schaffen soll, diese schwerwiegenden und für mich so wichtigen Worte zu sagen. Die Frage aller Fragen zu stellen.

„Willst du mich heiraten?“

Klingt … Ich stocke. Mit so einem piepsigen Flüstern brauche ich das wohl nicht zu fragen, oder?

Räuspern, einen Schritt auf das Glas zum Feld zu, Stimme festigen und noch mal: „Willst du mich heiraten?“

Ha, das hat immerhin schon mehr Gewicht, aber … so wirklich feierlich und ernsthaft klingt es noch immer nicht.

Dabei habe ich doch nur ihn im Kopf, im Herzen, in der Seele!

Seele … wie lange ist es her, dass ich zwei geschlechtslose Seelen, nebulös und beinahe transzendent, für ein Bild gemalt habe?

Ich weiß es sehr genau. Ich war 14, also schlappe zwölf Jahre.

Zwei Seelen in einer weit entfernt liegenden Schneelandschaft, nahezu dreidimensional, in den Vordergrund gerückt.

Von diesem Bild habe ich geträumt, nachdem ich den ersten Auszug und die grobe Zusammenfassung eines Buches gelesen habe. Schneeseelen heißt es, und ich bin auch so viele Jahre später noch hin und weg von der Handlung, dem Universum, welches als Schauplatz dient …

Vielleicht auch schon genauso lange von dem Mann, der es erschaffen hat. Das Buch, dessen Front mein Bild ziert.

Mein Lächeln wird breiter, meine Atemzüge ruhiger und tiefer.

„Willst du mich heiraten, Jaron?“

Ja! Das klingt so, wie es sich in mir anfühlt. Nach einem Herzenswunsch, einer unbändigen Sehnsucht, einer unstillbaren Gier nach Nähe, Wärme und Zuneigung.

Tief durchatmen, die Angst bekämpfen.

Vielleicht würde Opa mir jetzt auch sagen, dass meine Angst vollkommen daneben ist. So etwas wie ‚Junge, nun stell dich nicht an wie der erste Mensch!‘

Ja, das würde passen. Die gute Laune kehrt zurück, bringt Tatendrang und einen leichten Überschwang mit sich.

Ich wende mich zur Treppe und gehe hinab, bis ich zwei Etagen überwunden habe und an der Garderobe in der Diele stehe.

Mantel an, Schal um, Mütze auf. Wo sind die Handschuhe?

Ah, da!

Ich ziehe mich generalstabsmäßig und sehr winterfest an, steige zuletzt in meine gefütterten Schneestiefel und verlasse, nachdem ich mir den Autoschlüssel geschnappt habe, das Haus.

Mein Ziel ist die Innenstadt, genauer gesagt, das große Einkaufszentrum. Zumindest als erster Halt meiner Tour.

Ich parke in der Tiefgarage und begebe mich ins Erdgeschoss der ‚Arkaden‘.

Als ich die Auslagen des Schaufensters durchgesehen habe, atme ich erleichtert durch und betrete das Geschäft.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, erkundigt sich die freundliche Bedienung und lächelt mich warm an. Ich erwidere es kurz, mehr geht nicht, denn meine Nervosität holt mich gnadenlos ein.

Die Handschuhe habe ich bereits in der Manteltasche verschwinden lassen, jetzt muss ich meine zittrigen Finger anderweitig beschäftigen …

„Ich möchte gern Ringe kaufen.“

Sofort nickt sie und ihr Lächeln wird noch breiter. Ist das Amüsement, Freundlichkeit oder schlichtes Mitleid mit meiner zappeligen Gestalt?

Egal, was es ist, sie wirkt tatsächlich beruhigend auf mich, mit ihren besonnenen Bewegungen und ihrer offenen, aber keinesfalls enthusiastischen Reaktion.

„Haben Sie schon eine Vorstellung, wie sie aussehen sollen?“

Ha, da kann ich nicken! Klappt wunderbar. Danach deute ich auf das Schaufenster hinter den hellen halbhohen Holzwänden. Wir gehen gemeinsam dort hin und ich deute noch etwas genauer auf die weißgoldenen, schön arrangierten Reife. Mit einem Nicken kehren wir zum Tresen zurück und sie beugt sich hinab.

Nur Sekunden später hat sie drei Auslagebrettchen mit eingesteckten Ringen auf der Glastheke platziert.

Ja, da sind sie! Ich tippe mit einem halb unterdrückten Seufzen auf die wunderschönen Ringe, die ich seit Monaten heimlich im Schaufenster angaffe.

„Welche Größen benötigen Sie?“

Ihre Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe sie an und sage: „In 58 und 60, bitte.“

Für Jarons Ringmaß musste ich nachts heimlich einen Papierstreifen um seinen Ringfinger legen, den Umfang anzeichnen und morgens nachmessen.

Jetzt wird sie denken, ich habe eine Freundin mit ziemlich dicken Fingern, dabei sind nur Jarons Gelenke zu breit, so dass er eine Größe mehr als ich braucht.

„Das wären dann diese beiden hier“, sagt sie und pflückt nach kurzer Suche die entsprechenden Größen aus dem Display.

Ich kann nicht anders, ich muss sie anfassen, stecke den mit meiner Größe auch kurz auf meinen Ringfinger, will sehen, wie das silbrige, beinahe einen Zentimeter breite Metallband dort wirkt.

Zufrieden nickend ziehe ich ihn wieder ab und lege ihn neben den anderen.

„Ja, genau die sollen es sein.“

„Mit Gravur, vermute ich?“ Ihre Zielsicherheit verrät, dass sie keinen Zweifel daran hat, was diese Ringe für mich bedeuten.

Ich werde ruhiger und räuspere mich. „Ja, bitte. Bis wann könnte ich sie dann abholen?“

„Gravuren erledigen wir vor Ort. Falls Sie noch einkaufen müssen, könnten Sie sie heute am frühen Abend schon abholen“, sagt sie nach einem Blick auf eine der Uhren an der Rückwand des Geschäftes.

„Fantastisch!“ Ich klinge wohl so erleichtert, wie ich mich fühle, denn sie lacht mich fröhlich an, bevor sie einen großen Auftragsblock aus einer Schublade der Theke nimmt und einen Stift ergreift.

„Was soll denn drinstehen?“

„In beiden ‚Seelen aus Schnee können niemals erfrieren‘, bitte in zwei Zeilen.“

Sie nickt verstehend, auch wenn sie kurz die Stirn runzelt. Sorgfältig ausgeformte Buchstaben bilden meine Gravurwünsche auf dem Block ab.

„Und in den größeren ‚Mika‘, in den kleineren ‚Jaron‘. Bitte gegenüber dem Satz.“

„Was für ein wunderschöner Spruch!“

„Ja, er bedeutet mir sehr viel.“

„Ich beneide Sie, wenn ich ehrlich sein darf. Nicht missgünstig, sondern wohlwollend. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie eines Tages die gleichen Rechte bekommen, wie alle anderen Eheleute.“

„Woher wissen Sie, dass es keine Freundschaftsringe sind?“, frage ich erstaunt, was sie zu einem lachenden Kopfschütteln reizt.

„Nennen Sie es Intuition, aber solche hochwertigen Ringe sind und bleiben Eheringe. Außerdem strahlen Sie Ihr Glück so wunderbar aus, dass es nicht schwierig zu erraten war.“

Ich bin ein wenig gerührt von ihrer Erklärung, ebenso von ihrem Wunsch für uns. Dabei ist es nicht entscheidend für mich, welche Rechte wir haben werden. Nicht für meine Gefühle und diesen unbändigen Wunsch, Jarons und meine Liebe zu besiegeln.

Wir überprüfen gemeinsam noch einmal den Gravurauftrag, dann bezahle ich die Ringe und verabschiede mich auf später.

Jetzt muss ich zum Baumarkt.

Dort angekommen nehme ich einen großen Einkaufswagen mit und stürme die Abteilung mit den Lichterketten und -netzen.

Warmweiß muss es sein, auf gar keinen Fall bunt oder kaltweiß.

Im Geiste gehe ich die Flächen und meine Pläne durch, habe am Ende alles beieinander und hole mir aus der Elektroabteilung noch ein wasserfestes Außenverlängerungskabel und einen Mehrfachstecker mit den gleichen Attributen.

Einen Teil der Lichternetze kann ich in Reihe schalten, sie werden am Ende nur einen Trafo und einen Stecker brauchen, die anderen zähle ich noch einmal durch und entscheide mich für ein zweites Kabel samt Mehrfachsteckleiste. Soll ja schließlich nicht die Sicherungen killen, sondern … einfach toll aussehen, wenn ich fertig bin!

~*~

Da ich nach dem Kaufrausch im Baumarkt viel zu früh fertig bin, um die Ringe abzuholen, fahre ich zu meinen Eltern. Sie müssen mir nämlich helfen, das sollte ich direkt abklären.

Auch wenn ich ihnen und Mara nicht erzähle, was genau ich vorhabe, abgesehen davon, dass ich das Haus mit Licht verzieren will, versprechen sie mir, Jaron aus dem Haus zu locken und zu beschäftigen.

Jarons Eltern weihe ich ebenfalls in meine Pläne ein. Ruth und Siegfried wissen schließlich schon lange um die Leidenschaft ihres Sohnes für winterliche Beleuchtung. Deshalb bietet Jarons Vater mir auch sofort an, mitsamt einer langen Leiter zum vereinbarten Zeitpunkt zu erscheinen.

Am Ende sieht es so aus, dass mein Freund am Samstag ab Mittag dafür eingespannt wird, mit Mara, meiner Mutter und den Kindern auf Shoppingtour zu gehen. Der Auftrag lautet: Haltet meinen Kerl bis 18 Uhr von seinem Haus fern, jedes Mittel ist erlaubt.

Außer fesseln und knebeln, natürlich …

Siegfried und mein Vater Thorsten werden bei mir auftauchen und gemeinsam wollen wir die Installation der Lichter in Angriff nehmen.

So weit, so gut!

Nachdem alles geklärt ist, kehre ich zu dem Juwelier zurück und werde freudestrahlend begrüßt.

Die nette Frau Wienand überreicht mir das Kästchen mit den Ringen, damit ich die Gravuren noch einmal überprüfen kann – sie sind wirklich toll geworden!

Die Hochglanz-Papiertragetasche mit den roten Wollkordeln als Griffen überreicht sie mir, indem sie sie auf der Glastheke abstellt. So eine große Tasche für ein kleines Ringkästchen?

Fragend mustere ich sie und sie lächelt.

„Alles Gute für Sie, Herr Gustav. Für Sie und Ihren Mann.“

Ich ziehe die Tasche zu mir und blinzle ein paarmal, bevor ich wieder ihren Blick suche. „Das ist …!“

In der Tasche befindet sich nicht bloß das Geschenk für meinen hoffentlich-bald-ja-sagenden Mann, sondern auch eine Flasche Champagner und eine Schachtel erlesener Pralinen.

„Von der Belegschaft“, flüstert sie mir zu und zwinkert.

„Da-danke!“, stottere ich perplex.

Wie oft haben Jaron und ich in den vergangenen Monaten unserer Beziehung immer wieder mit homosexuellenfeindlichen Idioten zu tun gehabt? Wie oft hat er mich in solchen Situationen beschützt, das Reden übernommen, weil mich offene Aggression dieser Art einfach sprachlos, hilflos macht?

Diese lieben Menschen hier – es sind drei Verkäuferinnen und der Chef – haben ganz offensichtlich das Gegenteil im Kopf.

„Gern. Wir alle wünschen Ihnen eine schöne Zukunft!“

Ich bin froh, dass der Laden nicht leer ist, die anderen gerade damit beschäftigt sind, Kundschaft zu bedienen. Dennoch blicke ich sie alle nacheinander an und lächle strahlend. Sie erwidern die Blicke und ihre freundlichen Mienen sorgen dafür, dass sich wohlige Wärme in mir ausbreitet.

Schließlich schnappe ich mir die Tasche und verlasse mit den besten Wünschen für Weihnachten, das neue Jahr und überhaupt das ganze Leben, den Laden.

Nach Hause. Und zwar schnell! Ich muss meine Einkaufsbeute im Keller verstecken, bevor ich Jaron abholen muss!

Er hat sich heute mit seinem Lektor irgendwo im Ruhrgebiet getroffen. Wegen der miesen Straßenlage mit Eisglätte und starken Schneefällen hat er den Zug genommen. Ich sammle ihn später am Bahnhof ein. Zumindest hoffe ich, dass er halbwegs pünktliche Verbindungen bekommt, und nicht irgendwo strandet. Die Bahn ist ja nun auch nicht gerade bekannt dafür, besonders wetterbeständige Fahrtzeiten einzuhalten …

Er wird hungrig sein, weshalb ich mich nach dem Verstauen der Lichterketten sofort in die Küche begebe, um zu kochen.

Wir haben uns daran gewöhnt, morgens zusammen zu frühstücken, mittags nur eine Kleinigkeit und abends dann warm zu essen.

Es gefällt uns sehr gut so. Vor allem, weil wir einen gemeinsamen Alltag aufgebaut haben.

Eine Nachricht von Jaron lässt mich erleichtert aufseufzen. Er sitzt bereits im Zug nach Wesel. Von dort aus pendelt eine kleine Bimmelbahn hierher. Schnell antworte ich ihm, dass ich ihn pünktlich abholen werde.

Vor einem Jahr war ich übrigens noch kein großer Koch, da hätte es heute Nudeln mit irgendeiner Soße gegeben, aber jetzt hole ich den Wok heraus und beginne, eine süß-saure Gemüsepfanne mit Schweinelendchen zu Quellreis zu zaubern.

Zaubern trifft es ganz gut, denn ohne Jarons übermenschliche Geduld hätte ich es nie gelernt. Jeder andere wäre ganz sicher verzweifelt.

~*~

Ich blicke auf die Uhr, sein Zug kommt in zehn Minuten an, ich sollte losdüsen, damit er nicht auf dem Bahnsteig warten muss.

Kalt wird ihm zwar nicht sein, immerhin ist er meine ganz private, menschliche Heizung, doch weiß ich selbst zu genau, wie schön es ist, aus dem Zug zu steigen und dort erwartet zu werden.

Ich schaffe es rechtzeitig, bin vermutlich zum ersten Mal sehr froh, dass der kleine Zug, der als einzige Bahnverbindung in unsere Stadt führt, sieben Minuten Verspätung hat. Dadurch kann ich parken und zum Bahnsteig eilen.

Dennoch wird mir in den paar Minuten sehr kalt. Ich hüpfe ein wenig herum, während ich auf dem matschig-nassen Bahnsteig warte.

Als mein Mann – das ist er für mein Herz nämlich schon, seitdem ich ihm letztes Jahr im Dezember begegnet bin – seine Lederstiefel die zwei Stufen aus dem Waggon auf das rote Pflaster des Bahnsteigs setzt, bleibt einmal mehr mein Herz für ein paar Schläge stehen. Es nimmt seinen Rhythmus stolpernd wieder auf, während ein Lächeln meine Mundwinkel nach oben schiebt und ich strahlend auf ihn zueile.

Meine Arme schlingen sich um ihn, als ich gegen ihn pralle, und er lacht ebenso wie ich.

Er ist die Perfektion eines Mannes, zumindest in meinen Augen, was mir vollkommen ausreicht!

Sein Haar ist momentan wieder raspelkurz, wodurch das dunkle Blond heller wirkt, den Kontrast zu seinen braunen Augen noch deutlicher macht.

Im Gegensatz zu mir trägt er keine Mütze. Dafür aber einen eleganten, grauen Schal und Wildlederhandschuhe zu seinem Dufflecoat.

„Hi mein Herz“, begrüße ich ihn und kann nicht anders; ich lehne mich in seine Umarmung und küsse ihn.

Wir sind beinahe gleich groß, was uns so einiges erleichtert. Seine Arme umschlingen mich, das Wildleder um seine Finger streichelt meinen Nacken.

„Hi Baby. Ist dir kalt?“

Seine Fürsorge wärmt mich übergangslos. Jarons Liebe klingt aus jeder Silbe. Ich will mich noch dichter an ihn drängen, stattdessen nehme ich Abstand und ergreife seine Hand, um ihn mit zum Auto zu ziehen.

„Komm, das Essen ist fertig und ich will ausnutzen, dass du wieder da bist.“

Er lacht erneut leise. Ich mag seine samtige Stimme, nein, ich mag alles an ihm.

Jaron ist elf Jahre älter als ich, aber das hat nie eine Rolle gespielt. Wenn man uns zusammen sieht, ist das eh nicht von Belang, da er aussieht, als wäre er so alt wie ich.

Seine langen Beine wecken mit jedem festen Schritt an meiner Seite meine Lust auf ihn.

Ich will sie um mich geschlungen wissen, will tief in ihm sein, ihn lieben.

Ich schüttle hastig den Kopf. Erst essen, dann kuscheln. Sex ist schließlich nicht alles …

Meine Gedanken sind schwer zu bändigen. Genauso wie der Wunsch, ihn am liebsten jetzt sofort zu bitten, nein, im Notfall auch anzubetteln, mich zu heiraten.

Verrückte Idee!

Am Samstag startet die Vorarbeit, danach werde ich sehen, ob ich den Mut tatsächlich aufbringen kann. In der richtigen Atmosphäre, mit den richtigen Worten.

Auf der Heimfahrt beobachte ich ihn immer wieder. Die ganze Zeit liegt seine mittlerweile vom Handschuh befreite Linke auf meinem Oberschenkel.

Eine warme, gleichzeitig liebevolle und besitzergreifende Geste. Ich liebe das!

Oh, es wird mir schwerfallen, mir meine wahnsinnige Nervosität nicht in jedem Augenblick anmerken zu lassen. Ich kann zwar wunderbar Geheimnisse für mich behalten, aber im Moment könnte ich platzen vor Vorfreude und dieses Geheimnis habe ich ja mit niemandem geteilt … zumindest, wenn ich von den Mitarbeitern des Juwelierladens absehe.

Meine ganze Aufregung, das zappelig flatternde Herz, meine unvermittelt weich werdenden Knie … das alles kann ich guten Gewissens auch auf meine Liebe und die Wirkung des Mannes an meiner Seite schieben, aber er könnte es dennoch bemerken. Er merkt schließlich immer, wie es mir geht.

Wir parken den Wagen in der zweiten Garage, die wir durch einen autolosen Nachbarn anmieten konnten, gehen anschließend Hand in Hand den Stichweg entlang, bis wir an dessen Ende vor unserem Haus landen.

Klingt verrückt, wenn ich das genau bedenke. Ich habe Jaron Mitte Dezember zum ersten Mal live und in Farbe getroffen, als ich mit Freunden zum Schlittschuhlaufen am Aasee war.

Ich glaube, es war eine Sache von Sekunden, mich in ihn zu verlieben, aber wer er wirklich ist, habe ich erst später herausgefunden.

Dass er der Autor der Schneeseelen ist, diese wunderbare, mich durch meine gesamte Jugend begleitende Buchserie mit ihrem Universum und ihren fantastischen Elementen erschaffen hat.

Es erschien mir wie ein Zufall, aber wenn ich darüber nachdenke, dass ich damals den Wettbewerb zum ersten Cover gewonnen habe, haben sich unsere Wege schon zu einer Zeit gekreuzt, in der ich nicht einmal in der achten Schulklasse war …

Ein Lächeln, ein Glücksschub, bevor ich es begreife, habe ich Jaron fest in meine Arme gezogen und drücke ihn hart an mich.

Er keucht überrascht auf, versteift sich zuerst, doch dann wird sein Körper weicher, anschmiegsamer, bis er mich ebenso umschlingt.

„Was ist los, Baby?“, fragt er dicht an meinem Ohr.

„Ich bin gerade davon überwältigt, wie sehr ich dich liebe, Jaron.“

Ich weiß nicht mal, ob er mich verstehen kann, ich murmele es nur, doch sein Griff um mich wird fester und seine Lippen wandern von meinem Ohr über meine Wange zu meinem Mund.

Sein Kuss ist sanft, weich, dennoch liegt darin eine Forderung, die ich nur zu gern erfülle.

Er raubt uns den Atem durch seine schiere, zärtliche Essenz. Unsere Mäntel landen im Flur am Boden, Jarons Hände sind überall an mir, so wie meine an ihm auf und ab wandern. Fahrig, fest, sanft, unkontrolliert. Es ist ein ständiger Wechsel in Koordination und Hingabe, Verlust aller Kontrolle.

Herrlich!

Erst nach endlosen Minuten lösen wir uns voneinander, und während ich die Sachen vom Boden an die Garderobe befördere, geht mein Mann in die Küche und kocht Tee.

Verrückt, vielleicht sollte ich ihn noch nicht so nennen … andererseits … es ist eine Herzensangelegenheit und meine Gefühle vermitteln mir seit elf Monaten, dass er genau das ist.

Mein Mann.

~*~

Nach dem Essen lassen wir den Tag ruhig ausklingen. Gemütlich lümmeln wir auf der Couch im rattensicheren Wohnzimmer. Der Kaminofen bollert, verbreitet eine so angenehme Wärme, dass ich leise brummend an Jaron lehne, während er mir vorliest.

Das ist eine echte Tradition geworden!

Bereits am ersten Tag, beziehungsweise in der folgenden Nacht, hat mir Jaron vorgelesen. Ich schließe genießend die Augen und versetze mich zurück an den Tag.

Erst das Eislaufen auf dem See, der Kakao und die Bratwurst, die ich gemeinsam mit ihm gegessen habe, das zweite Treffen an der Bushaltestelle, Ullas Geburtstagsparty, der Streit mit meinen Eltern … Ich seufze tonlos und er unterbricht das Vorlesen, um seine Lippen an meine Stirn zu legen.

„Was ist los?“ Im Gegensatz zu seiner betonenden, sogar unterschiedliche Stimmen verwendenden Lesestimme, spricht er jetzt leise, ganz sanft.

„Hab an unsere Anfänge gedacht. An den ersten Tag … Weil ich es so sehr liebe, wenn du mir vorliest. Deine Geschichten werden beim Selbstlesen schon lebendig, aber wenn du sie liest …“ Ich lasse meine Stimme bedeutungsvoll ausklingen, er lächelt zur Belohnung.

„Ich hab drüber nachgedacht, die neuen Geschichten selbst einzulesen. Meinst du, wir können im Keller eine Ecke für ein kleines, schalldichtes Tonstudio einrichten?“

Ich richte mich auf, blinzle zweimal. „Na klar! Die Leute werden deine Hörbücher lieben!“

Er lacht leise und legt den E-Book-Reader beiseite, um mich fest an sich zu ziehen.

Seine Küsse schmecken vor allem nach einem – nach mehr!

Immer.

Ich schmiege mich an ihn, würde am liebsten in ihn hineinkriechen. „Ich liebe dich“, knurre ich gegen seine geöffneten Lippen und verstärke meinen Griff um ihn.

Wie so oft reicht ein solcher Reiz, um mich zu weit mehr zu bringen, als einer wilden Knutscherei. Meine Hände gleiten unter sein Hemd, streicheln über seine warme Haut.

Aus den heißen Küssen werden fordernde, sanfte Bisse, bis wir nackt auf dem Sofa liegen und ich zwischen Jarons Beinen abtauche.

~*~

Mein Atem beruhigt sich langsam, ich liege fest an Jarons nackte Brust gekuschelt da und lasse die Nachbeben unseres Liebesspiels durch meinen Körper pulsieren.

„Ich liebe dich“, höre ich Jaron atemlos japsen, bevor er meine Stirn küsst.

Ihn zu besitzen, auch jetzt noch in ihm zu sein, erscheint mir immer wieder wie der Gipfel dessen, was an körperlicher Nähe erreichbar ist. Auch wenn Jaron mich in Besitz nimmt.

Es sind diese Minuten nach dem Orgasmus, die unsere Liebe greifbar machen. Nicht mehr vollkommen im Hormonrausch gefangen, ohne die wilde Ektase des Ficks.

Einfache, tiefgehende Nähe. Warm und gut.

Ich lächle ihn an, hebe dazu den Kopf von seiner Brust und versuche, mich so wenig wie möglich zu bewegen.

Seine Lippen finden meine, erneut versinken wir in einem zärtlichen Kuss, der all das zum Ausdruck bringt, was an Gefühlen in uns ist.

„Ich dich auch“, erwidere ich verzögert und kann nicht länger verhindern, aus ihm zu rutschen.

Wir verwenden schon seit geraumer Zeit keine Kondome mehr, weshalb auch das synthetische, latexfreundliche Gleitgel gestrichen wurde. Nicht so ersatzlos wie die Gummis, denn ohne Gleitmittel ist Männersex eine echte Herausforderung, doch haben wir uns für ein Melkfett mit Ringelblume entschieden.

Es schmiert, tropft aber nicht, hat bei eventuellen, kleineren Hautrissen den Vorteil, heilend zu wirken.

Ich muss grinsen und beiße spielerisch in seine Brustwarze. Sein Zucken erinnert mich daran, wie empfindlich er nach dem Sex ist.

Dabei ist unsere Gangart im Bett nun wirklich nicht harmlos. So etwas wie Blümchensex haben wir verdammt selten.

Aber hinterher … Mein Grinsen wird breiter und ich spüre, wie er seine Finger in meine Seiten krallt, um mich zu zwicken.

„Mein Herz, wenn du nicht aufhörst, kriegst du heute Nacht keinen Schlaf“, verspreche ich mit einem drohenden Unterton und knurre leise.

Er schaudert. Ich weiß genau, dass er mein wölfisches Knurren liebt, dass es ihn anmacht, wenn ich ihm zeige, wie sehr ich ihn will.

„Wer braucht schon Schlaf?“, raunt er und räkelt sich so aufreizend unter mir, dass ich an nichts anderes denken kann, als daran, ihn mit Zunge, Händen und Mund zu verwöhnen, bis wir beide wieder bereit sind.


 © Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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