Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Valentine Spiel 1- Ungewolltes Verlangen

  Leseprobe



~ Aushilfsjob ~

„Allein kannst du das ganz sicher nicht machen“, brummt mein Onkel und mustert mich zweifelnd.

Ich hebe die Schultern. „Wieso nicht? Es kann ja nicht so schwierig sein, Crêpes zu backen, oder?“

„Die Kirmes geht zwar nur vier Tage, aber täglich mehr als zwölf Stunden lang, und in der Zeit wirst du sicherlich auch mal eine Pause brauchen. Tatsächlich habe ich bereits drei Aushilfen für die Zeit eingestellt.“

Als Günter das sagt, wird mir erst bewusst, wie schräg mein Kopf momentan funktioniert.

Klar brauche ich Pausen und Zeit für meine Zigarettensucht oder das Klo.

Ich rolle über meine Kurzsichtigkeit die Augen und hoffe, dass mein Onkel nicht merkt, wie sehr ich neben der Spur bin.

„Logisch … Und wen hast du verpflichtet?“, erkundige ich mich.

„Studentische Hilfskräfte von der örtlichen Fachhochschule. Sehr nette Jungs, übrigens.“

„Okay, wenn das alles schon feststeht, kann ich wohl froh sein, dass du für mich noch Arbeit hast.“ Ich zwinge mich zu einem Grinsen. „Ist wirklich Klasse von dir.“

Er mustert mich mit schräg gelegtem Kopf. „Für meinen Lieblingsneffen mache ich fast alles möglich, aber dein plötzlicher Umzug und deine Bereitschaft, auszuhelfen, treffen sich hervorragend mit der Tatsache, dass die ursprünglich angeheuerte vierte Aushilfe ausfallen wird.“

„Oh? Was ist passiert?“

„Er hat sich beim Unisport das Bein gebrochen, wie ich hörte.“

„Autsch!“, quittiere ich. „Dann ist sein Unglück wohl mein Glück …“

Das gefällt mir natürlich nicht, weil ich so gut wie niemandem Schmerzen und gebrochene Knochen wünsche. Trotzdem hält sich mein Mitleid in den Grenzen, die mein Egoismus vorschreibt.

Ich brauche diese Ablenkung so dringend, dass Rücksicht nicht mein oberstes Motto ist.

„Sieht ganz so aus“, erwidert Günter nur.

Trotz des Themenwechsels werde ich den Verdacht nicht los, dass er mehr in meinen überstürzten Weggang aus Hamburg interpretiert, als ich bereit bin, zu erzählen.

Entsprechend schweige ich dazu beharrlich und lenke noch einmal vom Thema ab. „Das wird sicher cool. Ich hab die Kirmes noch nie aus dieser Perspektive gesehen.“

Er lacht leise. „Die Gelegenheit hast du ja jetzt.“

Ich nicke. „Gut so!“

„In Ordnung, dann treffen wir uns am besten Dienstagmorgen auf dem Firmengelände, da werde ich euch den Wagen und alles Nötige erklären. Du weißt aber, dass du am Sonntag zum Essen kommen kannst?“

Mein Onkel erhebt sich wieder und ich verabschiede ihn an der Tür.

„Alles klar, ich überlege es mir. Ansonsten bis Dienstag!“

Er hebt im Hausflur noch einmal die Hand und geht.

Wieder in der Küche mache ich mir einen neuen Kaffee, während Onkel Günters Tasse im Geschirrspüler landet.

Erst gestern habe ich die letzten ausgeräumten Kartons in den Keller gebracht.

Mein neues Zuhause ist geradezu dekadent groß für mich allein, aber dieser Umstand ist der lächerlich geringen Miete geschuldet.

Ich wohne seit zwei Wochen in diesem Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien. Erdgeschoss links, 91 qm Grundfläche, Garten und langer, überdachter Carport. Die Besitzer der Wohnung sind irgendwo nach Mitteldeutschland gezogen, um bei ihrem Enkel zu sein, glaube ich, jedenfalls konnte ich dieses Prachtstück problemlos anmieten.

Der kommende Dienstag ist kurz vor der Eröffnung der alljährlichen Herbstkirmes von Weidenhaus. Am dritten Wochenende des Oktobers findet sie statt, und ich war als Kind immer dort.

Meine Eltern und ich sind vor 16 Jahren hier weggezogen, weil mein Vater in Heide einen Job bekommen hat, als ich von der Grundschule auf das Gymnasium wechseln musste.

So bin ich in einem der heißesten Sommer überhaupt dorthin übergesiedelt und nach den Ferien in die neue Schule gegangen.

Nach der zehnten Klasse zog ich mit Realschulabschluss in den Speckgürtel Hamburgs und habe dort gearbeitet.

Meine restliche Verwandtschaft lebt aber noch in der Gegend um Weidenhaus, und als ich durch meine überstürzten Bewerbungen einen Job bekam, bin ich wieder zurückgekommen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich hier meinen Cousin Niklas und eben auch Onkel Günter und Tante Sigrid habe.

Zu den dreien hatte ich immer guten Kontakt, auch wenn ich sie selten besucht habe.

Eine gute Woche nach der Kirmes werde ich die neue Arbeitsstelle antreten und wieder ein geordneteres Leben führen – hoffe ich.

Zuletzt war es ziemlich chaotisch, das muss ich zugeben, als ich mit meinem Kaffeebecher und den Kippen auf die überdachte Terrasse gehe, um eine zu rauchen.

Mir gefällt der Garten! Er ist ziemlich klein, vielleicht 50 oder 60 Quadratmeter. Davon gehen mehr als 20 für die überdachte Terrasse drauf und ein breiter Weg führt von hier aus um die Hausecke zum Carport mit dem darin eingebauten Schuppen. Es ist also wirklich nicht viel Rasenfläche, die es zu beackern gilt.

Gut für mich!

Ich mag zwar Gärten, aber nicht zwangsläufig Gartenarbeit …

Am ovalen Terrassentisch sitzend, trinke ich meinen Kaffee und rauche zwei oder drei Zigaretten.

Ich denke über das Chaos nach, dem ich durch meinen Umzug und dem neuen Job entkommen bin.

Unschuldig bin ich übrigens nicht daran, vermutlich habe ich es sogar herausgefordert.

Neben einer Ausbildung zum Bürokaufmann in einer Reederei fand ich es damals spannend, mich abends und nachts auf dem Kiez herumzutreiben.

Geschlafen habe ich nur von zwei bis sechs in jeder Nacht, zwischen Feierabend im Büro und dem Zubettgehen hatte ich ziemlich viel Spaß, meistens zumindest.

Nein, ich war kein Stricher, aber letztlich habe ich wohl etwas sehr Ähnliches praktiziert.

Zu Anfang habe ich gefickt und mich ficken lassen, ohne dafür Geld zu nehmen, aber irgendwann im zweiten Lehrjahr lernte ich Frank kennen, der mir mit seinen Geschichten über die bezahlten Sexdates, die er hatte, den Mund wässrig machte.

Es dauerte nicht lange, und ich hatte Visitenkarten, auf denen lediglich mein – englisch ausgesprochener – Künstlername ‚Valentine‘ und eine Handynummer standen.

Ich brauchte nicht mehr auf dem Kiez abzuhängen, nachdem ich auf einschlägigen Datingportalen für Schwule inseriert hatte.

Jetzt riefen mich die möglichen Kontakte einfach an und wir verabredeten uns.

In den ersten Monaten, bis kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, verdiente ich auf diese Weise jede Menge Geld, das ich für geile Klamotten, meinen Führerschein und ein wenig mehr privaten Luxus ausgab.

Natürlich habe ich nicht alles zum Fenster rausgeworfen, obwohl es durchaus Monate gab, in denen ich das hinbekommen habe.

Meine Eltern hätten bei größeren Anschaffungen ganz sicher etwas mitbekommen, dazu war und ist mein Verhältnis zu ihnen einfach zu gut.

Später habe ich zur Tarnung meiner Finanzen kleine Modeljobs angenommen, meistens Katalogmoden oder auch mal für Bildbände, aber niemals habe ich zugelassen, dass mein Konterfei auf großformatigen Werbeanzeigen auftauchte.

Ein Grinsen zieht über mein Gesicht. Es war cool zu jener Zeit. Auch wenn es nach den ersten zwei Jahren noch einmal anders wurde. Ach was, anders, es wurde dekadenter!

Mit zwanzig Jahren schaffte ich mir eine Wohnung an, in der ich ausschließlich Kunden empfing. Es gefiel mir besser, auf meinem eigenen Terrain zu arbeiten, obwohl ich in neunzig von hundert Fällen keine Angst haben musste.

Es hatte eindeutig Vorteile, dass ich mir meine Kundschaft größtenteils aussuchen konnte. Klar, hin und wieder gab es mal einen echt hässlichen Vogel, der mich ficken wollte, oder mal einen Viagra-Jünger, der ein bisschen perverser drauf war.

Wieder dieses Grinsen …

Ich fand zu der Zeit auch heraus, dass ich es sehr genoss, andere zu dominieren, ihre Lust absolut zu kontrollieren, weshalb ich meine bestehenden Kontakte zur BDSM-Szene ausbaute.

Heute kann ich sagen, dass ich meine besten Freunde in genau dieser Szene habe, und vor allem, dass ich mit sämtlichen Techniken und Spielarten vertraut bin, die dort praktiziert werden.

Tja, wie man es auch dreht und wendet, ich bin dreimal chemisch gereinigt, wenn es um Kerle, die Abgründe sexueller Begierden und das Leben an sich geht.

Das Grinsen vergeht, ich mache nervös die Zigarette aus und sehe mich idiotischerweise um, als wäre irgendjemand hinter mir her.

Ein hartes Auflachen, denn das ist die reine Wahrheit!

Es ist jemand hinter mir her!

Ich bin hier nicht einfach nur hergezogen, weil ich es so schön finde, wieder in der Stadt zu sein, in der ich die ersten elf Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern weil ich untertauchen wollte.

~*~

„Hallo zusammen!“, grüße ich am Dienstagmorgen um zehn Uhr, als ich auf dem Werkstattgelände von Onkel Günters Dachdeckerfirma ‚Holtkamp Bedachungen‘ erscheine und mich dem blau-rot lackierten Crêpe-Stand nähere.

Direkt neben dem Firmengelände liegt das riesige Wohnhaus meines Onkels. Er hat es gebaut, als seine Kinder noch ganz klein waren, also vor meiner Geburt.

Günter und die drei studentischen Hilfskräfte – Lars, Tim und Bernd – sind bereits im Inneren und testen die Gerätschaften.

Ich geselle mich zu ihnen und stelle fest, dass der Verkaufswagen größer ist, als ich angenommen hatte.

Insgesamt vier Backplatten für die dünnen Pfannkuchen, jeweils zwei an zwei Arbeitsplätzen, nehmen den Großteil der Theke ein, darunter befinden sich Kühlschränke mit Glastüren, in denen die benötigten Zutaten lagern.

Die Rückwand wird von einer Arbeitsplatte mit weiteren Kühlfächern dominiert, trotzdem bleibt noch genug Platz, um halbwegs bequem aneinander vorbei zu gehen und alle Teile des Wagens zu erreichen.

Voll cool, eine Kaffeemaschine haben wir auch!

Über der Arbeitsplatte hängt die gut sichtbare Preistafel mit den unterschiedlichen Belag-Möglichkeiten, die wir anbieten werden.

Neben geriebenem Käse, Schinkenwürfeln und allerlei Spirituosen, wird man auch Zimtzucker, Schokoladencreme, Bananen und heiße Kirschen auf seinem Crêpe bestellen können.

Während Bernd und Lars sich an den ersten Pfannkuchen versuchen, lerne ich bereits die Karte auswendig, um es mir am kommenden Wochenende etwas zu vereinfachen.

Die Arbeitsplatzlogistik ist wohldurchdacht, man kann reibungslos arbeiten, und durch die Backzeit der Crêpes hat man auch genug Gelegenheit, die benötigten Zutaten heranzuholen.

Zum Aufrühren des Teiges, der sich in großen 20-Liter-Eimern befinden wird, haben wir eine Bohrmaschine mit Rühraufsatz, was die ganze Angelegenheit irgendwie cooler macht. Auch wenn ich nicht gerade ein Heimwerkerheld bin, macht mir so etwas Unorthodoxes Spaß.

Ich muss zugeben, ich freue mich auf die Kirmes.

Nachdem wir vier es hinbekommen, die Pfannkuchen unfallfrei zu backen, dürfen wir die Ergebnisse unserer Bemühungen aufessen und verteilen den Rest unter den heute in der Werkstatt beschäftigten Mitarbeitern des Betriebes. Es sind nicht annähernd alle da, die meisten sind – laut Aussage meines Cousins, der uns zwischenzeitlich am Stand besucht – auf diversen Baustellen zu finden.

Nachdem wir alles gereinigt und wieder verstaut haben, der Wagen geschlossen und abfahrbereit ist, verrät uns mein Onkel, wo der Verkaufsstand in den kommenden Tagen stehen wird.

Zu meiner großen Freude ist der Stellplatz nicht an einer der Seitenstraßen, sondern auf dem Hauptgelände des Jahrmarktes gelegen. Dadurch werden meine neuen Arbeitskollegen und ich sicherlich immer wieder Zeit genug finden, uns umzusehen.








~ Neugier ~

Ich muss mir endlich eine neue Wohnung suchen!

Dieser Gedanke überfällt mich mit schöner Regelmäßigkeit, sobald ich nach der Arbeit die Eingangstür öffne.

Stimmt nicht! Er kommt jedes Mal auf, sobald mein Blick auf eines der riesengroßen, auf den Putz gemalten Wandbilder in beinahe jedem Raum fällt.

Ich hasse sie abgrundtief, da ich durch sie an die verlogenen Jahre meiner festen Beziehung erinnert werde.

Es wäre so einfach, einen Eimer Farbe zu nehmen, um die Beweise meiner Dämlichkeit verschwinden zu lassen.

Das will ich aber nicht!

Sie sollen mir täglich in Erinnerung rufen, wie gefährlich es ist, sich auf einen Mann einzulassen, und dass ich es vermeiden muss, mich jemals wieder zu verlieben.

Ich seufze tief und begebe mich ins Schlafzimmer, um mich auszuziehen und duschen zu gehen.

Morgen noch, dann ist Kirmes!

Dieser Gedanke vertreibt zum Glück die negativen Empfindungen.

Es ist vollkommen egal, dass ich bis einschließlich Samstag arbeiten muss. Der Jahrmarkt wird für mich so oder so erst bei einsetzender Dunkelheit spannend. Ich liebe die bunten Lichter, ihre Spiegelungen in den glänzenden Wagen der Fahrgeschäfte, die blinkenden Lichtreflexe, die von Bude zu Bude weitergegeben werden.

Irgendwie hat Kirmes etwas Magisches für mich. Vielleicht, weil ich mich an wunderbare Erinnerungen klammere, die mich mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester verbinden.

Alle drei sind tot.

Ich war 16 und hatte gerade die Ausbildung bei Günter Holtkamp, dem besten Freund meines Vaters, begonnen. Daher konnte ich Marleen, Mama und Papa nicht in den Urlaub begleiten.

Tief durchatmen. Sogar ein schiefes Lächeln kriege ich hin. Erstaunlich, da mich diese Erinnerungen eigentlich immer ziemlich fertig machen.

Ich vermisse meine Familie, obwohl sie seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da ist. Das wird sich wohl nie ändern, genau, wie ich andere negative Empfindungen nicht mehr loswerden kann.

Trotzdem habe ich gelernt, mit dem Verlust klarzukommen – hauptsächlich wohl, weil mich eine andere Familie unter ihre Fittiche genommen hat.

Mit viel Liebe, Wärme und einem eigenen Zimmer in ihrem Haus. Für mich lebensrettend war allerdings ihr großes Einfühlungsvermögen. Sie hatten Verständnis, wenn ich mal ausflippte, akzeptierten, dass ich erst lernen musste, mit meinem plötzlich so leeren Leben umzugehen.

Günter und Sigrid Holtkamp sind seit langem meine zweite Chance auf eine Familie.

Niklas, ihr jüngster Sohn, ist wie ein Bruder für mich. Er ist mein Vertrauter, kennt meine geheimsten Gedanken.

Niemals haben die Holtkamps versucht, meine Familie abzulösen, aber sie haben sie ersetzt, haben die Leere in meinem Innern peu à peu gefüllt.

Mehr, als ich es erwartet hätte.

Lächelnd trete ich aus der Dusche und trockne mich ab. Noch rasieren, dann muss ich wieder los.

Gegen 20 Uhr erwartet meine Zweitfamilie mich zum traditionellen Kaninchenbraten, den wir jedes Jahr vor der Kirmes genießen.

Sobald ich das Aftershave aufgetragen habe, blicke ich in den Spiegel und zitiere mit möglichst ernsthaftem Gesicht den Spruch, der diese Futter-Tradition bedingt hat: „Wenn Kermes is, wenn Kermes is, dann schlacht’ onsen Vader ’nen Buck, wenn Ovend is, wenn Ovend is, dann is denn Buck all up!

Oh Mann, ich kann manchmal echt albern sein. Kichernd verlasse ich das Bad und ziehe mich an.

Als ich vor den mannshohen Spiegel trete, um mein Aussehen zu begutachten, fällt mein Blick zwangsläufig auf den Hintergrund, der, genau wie mein Abbild, wiedergegeben wird. Ein Teil des überdimensionalen Wandbildes – schwarzweiß und blutrot. Schlagartig ist meine Stimmung auf dem Nullpunkt.

Ich muss aus dieser Wohnung raus! Bis vor zwei Jahren habe ich sie mit meinem heutigen Exfreund geteilt. Inzwischen sind mir nicht nur die Gemälde zuwider, das gesamte Interieur erinnert an ihn und ich will mich nicht mehr an ihn erinnern.

Um zwanzig vor acht trudele ich mit meinem Wagen wieder dort ein, wo ich auch arbeite – Günters Haus steht in einem der Industriegebiete direkt neben dem Werkstattgelände.

Jedes Mal, wenn ich den Wagen in der breiten Einfahrt neben dem von Niklas abstelle, überkommt mich ein unbändiges Gefühl von Heimat, von Nachhausekommen.

Entsprechend hebt sich meine Laune. Lächelnd eile ich zur Haustür und klingele.

Als ich mit Paul, meinem Ex, zusammengezogen bin, wollte ich meine Schlüssel zurückgeben, um niemals aus reiner Gewohnheit die Privatsphäre meiner Ersatzfamilie zu stören.

Günter und Sigrid haben sich jedoch geweigert, sie anzunehmen. Ich zitiere: „Unser Haus soll für alle Zeiten, genau wie für unsere leiblichen Kinder, eine Zuflucht sein, ein Ort, an den du stets zurückkehren kannst.“

Auch wenn ich die Schlüssel immer bei mir habe, würde ich sie nur im Notfall benutzen.

Niklas erscheint jenseits der großen, getönten Haustür und reißt sie grinsend nach innen.

„Wow, du musst dich ziemlich beeilt haben!“, begrüßt er mich und wie immer, wenn wir uns treffen, umarmen wir uns kurz. Das hat sich irgendwie eingebürgert, seit wir nicht mehr unter einem Dach wohnen.

„Wer bin ich, dass ich freiwillig Sigrid verärgere?“, gebe ich lautstark und mit einem fetten Grinsen zurück.

Mir ist klar, dass sie mich bis in die direkt angrenzende Wohnküche hört.

Prompt erklingt ihr fröhliches Lachen. „Als ob du darauf jemals Rücksicht genommen hättest, mein Schatz!“

Wir betreten die Küche, sobald mein Mantel in der geräumigen Diele an der Garderobe hängt.

Auch Sigrid begrüße ich mit einer Umarmung.

„Okay, ich schäme mich nachträglich!“, quittiere ich und lache.

„Geht es dir gut?“, will sie leise und sehr ernst wissen.

Da ist sie wieder, die Frage, die sie mir seit Jahren stellt. Sie hat damit angefangen, als ich bei Paul eingezogen bin.

Sigrid und Günter konnten Paul nie leiden. Für mich war das lange Zeit unverständlich. Wir haben uns auch häufiger deswegen gestritten, was mir bis heute unglaublich leid tut. Ihre Menschenkenntnis ist auf jeden Fall besser als meine.

„Ja, alles prima. Mach dir keine Sorgen.“

Sie weiß, dass ich lüge, in ihren Augen kann ich es sehen.

Kurz streichelt ihre Hand meine Wange, dann lächelt sie und gibt mich frei.

„Okay, Jungs, Tisch decken!“

Wir erledigen das umgehend, genehmigen uns anschließend noch eine Zigarette auf der frostigen Terrasse und sitzen pünktlich am Tisch in der Küche.

~*~

Das Essen verläuft in allerbester Stimmung, während wir die Planungen für das anstehende Kirmeswochenende abstimmen.

Morgen Abend werden Niklas, dessen Freundin Miriam und ich uns mit dem Rest unserer bunt gemischten Clique treffen, um gemeinsam über die Kirmes zu gehen.

Das machen wir immer, fällt also ebenfalls unter Tradition

„Wo steht der Crêpe-Stand in diesem Jahr eigentlich?“, frage ich, weil ich ein echter Crêpe-Junkie[f1]  bin.

„Auf dem Hauptplatz, schräg gegenüber vom Riesenrad“, verrät Günter mir und grinst. Natürlich kennt er meine Leidenschaft. Eine bestimmte Sorte Belag ist schließlich nur meinetwegen auf der Speisekarte gelandet.

„Cool, dann weiß ich, wer sich, bevor wir uns am Treffpunkt sammeln, schon mal den ersten Crêpe holen wird!“

Meine offensichtliche Vorfreude reizt die anderen zum Lachen.

Ist seit einiger Zeit immer so. Anscheinend sind echte Begeisterungsausbrüche bei mir in den letzten Jahren so selten geworden, dass sich die Anwesenden überschwänglich mit mir freuen.

„Da lernst du dann vermutlich gleich Wolf kennen“, bemerkt Günter lächelnd.

„Wen?“, hake ich nach.

„Meinen Cousin aus Hamburg. Er ist weggezogen, bevor er zu uns aufs Mariengymnasium kommen konnte“, erklärt Niklas bereitwillig.

„Hm, war er danach noch mal hier?“

„Ich glaube nicht. Er war seit damals auf keiner Familienfeier mehr“, sagt Niklas und lächelt schief.

„Und er hilft am Stand aus?“, hake ich, nun echt neugierig geworden, nach.

„Jepp. Mich wundert eh, dass er wieder hergezogen ist. Bislang dachte ich immer, er wollte aus Hamburg nicht mehr weg. Immerhin hat er sich dort sein komplettes soziales Leben aufgebaut.“ Niklas klingt nachdenklich.

„Er ist aber sehr nett, so viel ist sicher“, mischt Günter sich in das Gespräch. „Wolf ist zwei Jahre jünger als ihr und wird sicher bald Anschluss brauchen.“

Niklas nickt sofort. „Auf jeden Fall! Schade, dass er heute Abend nicht kommen konnte.“

„Ich habe ihn extra angerufen, aber er wollte noch irgendwas in der neuen Wohnung umräumen“, erklärt Sigrid.

„Wollte er?“ Günter sieht sie verwirrt an. „Als ich am Wochenende bei ihm war, stand kein einziger Karton mehr herum.“

Alle schweigen eine Weile und hängen ihren Gedanken nach.

„Hm, vielleicht in einem Zimmer, das du nicht gesehen hast?“, schlägt Sigrid vor.

„Möglich“, erwidert Günter, sieht allerdings nicht überzeugt aus. Die Stirn in Falten gelegt, grübelt er still vor sich hin.

Dieser Typ, Wolf, weckt meine Neugier. Wer zieht ohne zwingenden Grund aus einer so faszinierenden Großstadt wie Hamburg weg und kehrt in unsere eher ländlichen Gefilde zurück? Günter erweckt jedenfalls den Eindruck, dass er sich ernsthaft Sorgen um seinen Neffen macht.

Ich nehme mir vor, den Geheimnissen dieses ‚neuen‘ Familienmitglieds auf den Grund zu gehen.

Nach dem Essen mache ich mich sofort auf den Heimweg. Um halb fünf Uhr ist die Nacht für mich rum. Immerhin muss ich um sechs Uhr bei der Arbeit auf der Matte stehen.

Die letzte Zigarette rauche ich in meiner Küche, dann sehe ich zu, dass ich ins Bett komme.

An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Keine Ahnung, was mein Gedankenkarussell mal wieder in Betrieb gesetzt hat, aber es ist fast Mitternacht, als ich das letzte Mal auf den Wecker schaue.

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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