Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Valentine Spiel 2 - Ungewolltes Leid

  Leseprobe



~ Wurstaufholen ~

Mann, wie lange ist es her, dass ich zuletzt durch meinen Hunger geweckt wurde?

Ich richte mich hastig auf, werfe einen Blick zum Wecker und verharre perplex, weil mir klar wird, dass es bereits acht Uhr morgens sein muss.

Ich habe Kilian mit meinen schnellen Bewegungen geweckt.

„Hey, was ist los?“, fragt er und ich wende den Kopf zu ihm.

„Entschuldige, Löwenherz, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin voll hungrig und grad ziemlich abrupt aufgewacht. Guten Morgen.“ Ich lächle ihn an und schiebe danach die Beine vom Bett.

„Guten Morgen, Wölfchen. Hunger nennst du das? Bei mir heißt so was Kohldampf. Ich weiß gar nicht warum, aber aus irgendeinem Grund ist das Abendessen ausgefallen.“ Sein breites Grinsen verleitet mich beinahe dazu, wieder aufs Bett zu krabbeln und ihn ohnmächtig zu knutschen, aber die Natur ruft mich vehement in Richtung Badezimmer.

Ich schaffe es nicht einmal, nach der Erledigung gewisser Geschäfte wieder zu ihm zu gehen, da er mir in der offenen Badezimmertür gegenübersteht.

„Oh! Ich wollte dich grade vernaschen kommen“, albere ich.

Er lacht fröhlich. „Mir war, als hättest du das gestern sehr gründlich getan“, erwidert er und schiebt mich sacht beiseite, um ins Bad zu gehen.

„Ich zieh mir was über, dann mache ich Frühstück!“, erkläre ich noch, bevor er die Tür schließt und ich mich trolle.

Minuten später habe ich den Tisch bereits gedeckt, Aufstriche und Beläge dazugestellt, und die Brötchen in den Ofen geschoben.

Nun belohne ich mich mit einem Becher Kaffee und meiner Morgenzigarette auf der Terrasse.

Kilian kommt dazu und zieht mich erst mal zu einem anständigen Guten-Morgen-Kuss an sich, bevor er seinen Kaffeebecher nimmt und einen großen Schluck trinkt.

„Heute ist Wurstaufholen“, erinnert er mich.

„Oh, stimmt ja!“ Ich grinse. „Ich glaube, seitdem wir aus Weidenhaus weggezogen waren, habe ich das Lied nie wieder gesungen. Eigentlich schade.“

Er nickt. „Ich spreche ja nun auch sehr wenig Weidenhäuser Platt, aber dieses Lied muss einfach sein, vor allem, wenn man sich beim Wurstaufholen nicht blamieren will.“

„Du machst mir Mut …“, befinde ich halbernst.

„Ach, nach spätestens zwei Stationen hast du es wieder im Kopf“, versucht er mich zu beruhigen.

Der Kurzzeitwecker für die Brötchen piept.

„Los, ich hab mordsmäßigen Hunger, wenn ich nicht gleich was zu beißen bekomme, falle ich tot um!“, verkünde ich und stehe auf, sobald ich mich aus Kilians Arm und der Flauschdecke gewunden habe.

Beim Frühstück entscheiden wir, dass wir unter den Häkelwesten unseres Karnevalkostüms dicke Fleece-Pullover anziehen, damit wir nicht erfrieren.

Es sind zwar keine Minusgrade mehr, aber wirklich warm geht anders.

Entsprechend verkleidet fahren wir gegen zehn Uhr mit den Fahrrädern zum Treffpunkt. Unsere erste Station ist das Haus von Konstantin und Joél in der Weberstraße.

Laut Kilian dauert das Sammeln aller Cliquenmitglieder immer bis elf Uhr, so dass wir bei unseren Freunden erst mal unsere Räder parken und in der Wohnküche der zwei auf ein paar andere Gestalten treffen.

Alle sind verkleidet und wir werden mit lautem Hallo begrüßt – na gut, am heutigen Tag begrüßt man jeden mit ‚Helau!‘.

Die ersten Schnäpse und Bierflaschen werden verteilt.

Da Joél frei hat, haben Konstantin und er beschlossen, die erste Station zu bilden, damit sie anschließend mitgehen können.

Der große Bollerwagen, an dem Luftballons, Luftschlangengirlanden und an einem dicken, festgebundenen Pfosten auch ein Schild mit der Aufschrift ‚Wurstaufholen 2020‘ befestigt sind, ist bereits mit mehreren Kisten Bier und einer Kühlbox voller Likörflaschen bestückt. Becher und Pinnchen sehe ich auch in dem Vehikel.

„Wer soll dieses Monster eigentlich nachher ziehen?“, erkundige ich mich ahnungslos und ernte Lachen aus mehreren Richtungen.

„Wir wechseln uns ab, aber meistens ziehen zwei zusammen. Der Griff ist breit genug und jeder hat eine Hand frei für sein Bier“, erklärt Konstantin fröhlich, während er seine quietschgrüne Perücke noch einmal geraderückt.

Er und Joél sind als Joker aus Batman verkleidet, beide in der verwaschen geschminkten Version von Heath Ledger.

Sie sehen ziemlich cool aus!

Gegen halb zwölf sind wir endlich unterwegs. Ich bin schon jetzt sehr dankbar für das ausgiebige Frühstück, das Kilian und ich noch in Ruhe genießen konnten.

Sonst wäre ich vermutlich bereits hackestramm, um es vornehm auszudrücken.

Die Schlagzahl in Sachen Bierflaschen lässt auf den Fußwegen zwischen den Stationen etwas nach, aber da wir an jedem Haus, das zu unserer diesjährigen Tour gehört, einen neuen Bierkasten bekommen – zusätzlich natürlich das, weshalb man diese Tradition ‚Wurstaufholen‘ nennt – ist die Gefahr eines Vollrausches durchaus gegeben.

Wir sind gerade bei den Eltern von Miriam angekommen, und trällern erneut das traditionelle Lied auf Weidenhäuser Platt.

Aus allen Kehlen erklingt:

„Frao, goa noan Schostien, dor hang de lange Woste,

geev mei de lange, un lott de korte moar hange!

Frao geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao, geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!“

Irgendwie brechen wir danach ab, obwohl es eigentlich noch zwei weitere Strophen gibt.

Miris Mutter Geli lässt sich darauf aber nicht ein.

„Was denn? Seid ihr schon fertig?“, fragt sie auffordernd und wir lachen, bevor wir weitersingen.

„Frao, goa noat Eiernüst, dor legg de Eier sesse,

geev mei de fieve un lott dat eene moar blieve!

Frao, geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao, geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!

Lot mei nee so lange stoon,

ik mut no ’n Hüsken wieder goon.

Frao, geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!“

Nun ist sie zufrieden, und ich könnte mich noch immer über diesen herrlich seltsamen Text kaputtlachen.

Frau, geh zum Schornstein, da hängen die langen Würste,

Gib mir die lange und lass die kurze mal hängen.

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau, gib mir ’n Stück vom Schweineschwanz

Frau, geh zum Hühnernest, da liegen der Eier sechse,

gib mir die fünfe und lass das eine mal bleiben.

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau gib mir ’n Stück, von dem Schweineschwanz.

Lass mich nicht so lange stehn,

ich muss noch ein Häuschen weiter gehn,

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau, gib mir ’n Stück, von dem Schweineschwanz.

Wer pinkeln muss, nutzt die Gelegenheit jeweils an der aktuellen Station, und wir bekommen, wie es sich gehört, immer mehrere luftgetrocknete Mettwürstchen und meistens einen Zehnerkarton mit hartgekochten Eiern.

Es macht mir einen Heidenspaß, so durch halb Weidenhaus zu streifen. Vor allem, weil wir in ständig wechselnden Grüppchen ganz in Ruhe beim Gehen quasseln, uns erzählen, wie die gestrigen unterschiedlichen Partys waren, von den verrückten Kostümen berichten, die wir so gesehen haben, und natürlich reden wir auch über unseren morgigen Cliquenausflug zum Rosenmontagszug.

Gegen 18 Uhr trudeln wir vollkommen erledigt wieder bei Konstantin und Joél an der Weberstraße ein, wo zu meinem Erstaunen kein dunkel daliegendes Haus, sondern ein hell erleuchteter Garten auf uns wartet.

Verblüfft sehe ich Kilian an, der, seit unserem Rückweg von Birtes Eltern hierher, konstant meine Hand gehalten hat.

„Wer hat denn hier alles vorbereitet?“, frage ich, kaum dass wir durch das Tor im Zaun zum jenseitigen Teil des Hauses gegangen sind.

Konstantin, der meinen Ausruf offensichtlich gehört hat, kichert. „Joéls und meine Familie. Sie haben hoffentlich auch schon den Grill angeworfen.“

Das haben sie tatsächlich, denn nur wenig später zieht der Duft von Fleisch und gegrilltem Gemüse durch den Garten.

Ein Zelt, das hinter einem großen, ausladenden Kirschbaum steht, nimmt uns alle auf. Es ist wärmer darin, als ich vermutet hätte.

„Die zwei haben einen ultraschönen Garten“, verrät Kilian mir und nickt zur hinteren Zeltwand. „Da gibt es einen riesigen Schwimmteich, an dem sich im Sommer gern mal die halbe Clique tummelt.“

„Echt? Das ist ja cool! Dann müsst ihr nicht ins Freibad?“, hake ich nach. Mir ist durchaus bewusst, dass so ein privater Pool deutlich angenehmer für all diejenigen sein dürfte, die gleichgeschlechtlich orientiert sind. Immerhin ist hier nicht mit Anfeindungen zu rechnen.

„Nope, müssen wir nicht. Du auch nicht!“, versichert Joél mir grinsend, als er sich zu uns setzt und einen Teller mit aufgeschnittener Mettwurst vor uns abstellt.

„Darf ich mir den Garten mal ansehen?“, frage ich und er nickt sofort.

„Klar darfst du! Die ersten Sachen vom Grill sind gleich fertig, so langsam brauche ich ein wenig mehr Grundlage, auch wenn ich keinen Tropfen Alkohol hatte.“

Verwundert sehe ich Joél an, dann die Flasche Radler in seiner Hand. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ‚Alkoholfrei‘ darauf steht, und er den gesamten Tag über weder Schnaps noch anderes Bier getrunken hat.

„Du trinkst nicht?“, hake ich nach.

Er lächelt auf eine irgendwie traurige Art und ich bemerke, dass Kilian sich neben mir verspannt.

Was habe ich verpasst?!

„Mein Freund und mein bester Freund sind vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss gestorben“, sagt Joél ruhig und ich spüre augenblicklich, wie kalt meine Wangen werden.

„Oh, shit! Tut mir leid!“, bringe ich hervor und schlucke trocken.

„Alles gut, Wolf. Dank Konstantin hab ich es überwunden, aber Alkohol bleibt für mich ein No-Go. Vielleicht auch, weil ich ständig Leute zusammenflicke, die wegen der Sauferei in Schwierigkeiten geraten sind.“ Er legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt beruhigend zu.

„Dann muss es ja furchtbar für dich sein, uns alle trinken zu sehen“, murmele ich noch immer betroffen.

„Er trägt es mit Fassung“, erklärt Konstantin, der sich neben Joél auf die Bank sinken lässt.

Beruhigt mich das? Ich sehe auf meine Bierflasche und es fühlt sich seltsam an, in Gegenwart von Joél davon zu trinken.

Er scheint das zu bemerken, denn er sagt: „Wehe du hörst deshalb jetzt auf!“

Da er und Konstantin ebenso grinsen wie Kilian, entspanne ich mich ein wenig.

„Aber lass dich nicht erwischen, dass du wegen einer Alkoholvergiftung gerettet werden musst“, setzt Joél schalkhaft hinterher und sein Lachen steckt mich an.

„Okay, dann … würde ich jetzt gern den Rest vom Garten sehen und den Grill überfallen.“

Kilian erhebt sich, ich folge ihm und stehe Augenblicke später mit riesigen Augen vor der geilen Poollandschaft von Konstantin und Joél.

„Das ist ja der Wahnsinn!“, sage ich und deute zu dem Wasserfall, der aktuell für die einzigen Wasserbewegungen sorgt.

„Ich hätte gedacht, dass im Winter kein Wasser darin ist“, überlege ich laut.

„Der Whirlpool ist leer, aber das Becken selbst muss weiterlaufen, weil der Filterteich oben neben dem Haus sonst nicht arbeiten kann“, erklärt mein Freund und ich mustere ihn erstaunt.

„Woher weißt du so was?“

Er grinst ertappt. „Ich habe vor etwa zwei Jahren die gleiche Frage gestellt, und mich aufklären lassen.“

„So, so!“, erwidere ich und lehne mich in seinen Arm. „Dann danke ich dir für die erhellenden Worte.“

Ich strecke mich, um ihn zu küssen.

Nach dem folgenden, sehr ausgiebigen Kuss gehen wir Hand in Hand zum Grill und dem dort stehenden Hünen.

„Na, Jungs? Knutschen macht hungrig, was?“

Kilian lacht laut auf. „Klar, dass du das wieder spitzgekriegt hast, Henning!“

Ah, nun weiß ich immerhin schon mal, wie der Schrank heißt und grinse frech zurück.

„Na, was? Knutschen ist auch eines von Petras und meinen Hobbys, sei dir sicher!“, erläutert er und lacht ebenfalls.

„Wolf, das ist Henning, der beinahe unangefochtene Grillmeister von Joéls Familie.“

„Nur beinahe?“, frage ich und strecke ihm die Hand hin. „Hallo, freut mich!“

Henning nickt, ergreift meine Hand und blickt mich leidend an. Der Schalk blitzt aus seinen Augen. „Wenn Joéls Vater oder mein Bruder Robin es darauf anlegen, müssen wir um den Platz hier kämpfen, aber die zwei haben es heute vorgezogen, mir das Feld zu überlassen.“

„Na, dann lass mal sehen, was du für unsere leeren Mägen zu bieten hast“, sagt Kilian und wenig später kehren wir mit Würstchen, Steak und Salaten auf unseren Tellern zurück ins Zelt.

Die Salate haben wir uns aus der Küche geholt, in der ein nettes Büffet errichtet worden ist.

Dort habe ich auch andere Verwandtschaft von Joél und Konstantin getroffen, und fühle mich seit langem zum ersten Mal richtig sauwohl und vor allem sicher, obwohl ich nicht in Kilians Armen liege.

Klar, auch bei Holtkamps ist es toll, aber das Haus von Kilians Freunden scheint mit der großen, total lieben Familie eine Art Refugium für Schwule zu sein.

Vor allem, wenn ich bedenke, dass wir aktuell immer wieder von beschissenen, feigen Übergriffen auf Schwule in Weidenhaus hören.

Im Laufe des Abends essen, trinken, lachen und albern wir mit unserer sagenhaft tollen Clique und haben endlos viel Spaß.

Erst nach Mitternacht machen Kilian und ich uns auf unseren Fahrrädern auf den Heimweg.

~*~

Ich sitze an meinem Laptop im Esszimmer – das hat sich seit Kilians Malexzessen so eingebürgert – und arbeite an meiner Datei.

Nachdem ich es mühsam geschafft habe, auch den unschönen Rest zu lesen, ist mir aufgefallen, dass ich trotz der Beschreibung des Umzugs hierher, noch nicht ganz mit der Geschichte abschließen konnte.

Erst als ich irgendwann abends auf dem Sofa an Kilian gekuschelt dalag, ist mir aufgegangen: Kilian fehlte.

Alles, was ich seit meinem Umzug erlebt habe, fehlte.

Das Glück, das ich seitdem erfahren habe, fehlte.

Deshalb habe ich die vergangenen Tage genutzt, und alles nachgetragen, was bis heute passiert ist.

Natürlich nicht minutiös jede Begebenheit – der letzte Eintrag ist der Rosenmontag mit unserer Clique.

Das liegt nun eine Woche zurück und momentan sitze ich hier, um noch einmal alles von vorn zu lesen.

Irgendwie hat mich beim Versuch der Wunsch gepackt, noch ein wenig mehr Struktur in die Sache zu bringen, deshalb gibt es nun Titel für die einzelnen Abschnitte, die bisher nur ‚Kapitel‘ hießen.

Verrückt, mehr und mehr wird mein Bericht zur Vergangenheitsbewältigung zu einer Art Buch …

Aber ich denke, so langsam kann ich es auch gut sein lassen. Was ich noch erzählen müsste, weiß ich beim besten Willen nicht. Deshalb erkläre ich die Datei für geschlossen, sobald ich die Struktur ein letztes Mal überarbeitet habe.

Okay, nun also noch mal auf den Kindle damit, und dann werde ich den heutigen Abend damit verbringen, alles am Stück nachzulesen.

Hoffentlich hilft es und hoffentlich ist das ganze leidige Thema dann vom Tisch!

Es widerstrebt mir nämlich von Tag zu Tag mehr, mit irgendjemandem darüber zu reden.

Schon gar nicht mit Kilian, der, durch die voranschreitenden Ermittlungen und unsere ziemlich glückliche Beziehung, endlich etwas Aufwind zu erleben scheint.

Ich grinse verzückt vor mich hin, nachdem ich den Laptop heruntergefahren habe.

Ein Blick zur Uhr, in ein paar Minuten wird er hier sein, der Mann, der mein Leben so grundlegend verändert hat.

Verrückt ist es nach wie vor, teilweise sogar unglaublich, aber offensichtlich ist es dennoch wahr.

Während ich mir einen Hoodie schnappe, um draußen eine rauchen zu gehen, denke ich über die neue Dimension dessen nach, was Kilian und ich in der Horizontalen so treiben.

Das schiefe Grinsen, das sich sofort um meinen Mund legt, sagt im Grunde schon alles.

Es ist endlos geil, mit ihm zu schlafen!

Nie hätte ich erwartet, dass eine so oft, zu so unterschiedlichen Gelegenheiten ausgeführte Tätigkeit, wie das Ficken eines Mannes, etwas so Außergewöhnliches sein könnte.

Ja, klingt vollkommen verkitscht, aber so meine ich es nicht.

Was Kilian mir an Hingabe, Vertrauen und Liebe entgegenbringt, wenn ich meinen Schwanz in ihn schiebe, mich in ihm bewege, ihn um mich spüre und mich mit ihm gemeinsam immer höher treibe, ist schlicht von einer nie dagewesenen Intensität.

Ich würde behaupten wollen, dass die reine Handlung nicht mehr das Entscheidende ist, auch wenn sie als Mittel zum Zweck dient.

Entscheidend ist einzig und allein das Gefühl, das mich beherrscht, das Gefühl, das Kilian mir von sich zeigt und gibt.

Es macht nicht einfach Spaß, ihn zu nehmen, es ist pure, reine Erfüllung, es zu tun!

„In welchen Sphären schwebst du, Wölfchen?“, dringt Kilians Stimme in meine Gedanken, und ich fahre wieder mal heftig zusammen, bevor ich ihn ansehen und vor allem anlächeln kann.

„Löwenherz!“, rufe ich aus, während er eilig zu mir kommt und einmal mehr so betroffen aussieht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe.

Hm, meine noch immer vorhandene Schreckhaftigkeit macht mir ernste Sorgen.

Wenn ich das nicht endlich in den Griff bekomme, habe ich ein Problem.

„Tut mir leid, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken“, murmelt er, bevor er mich küsst.

„Du kannst ja nichts dafür“, versuche ich ihn zu beruhigen, als er sich zu mir setzt und sich ebenfalls eine Zigarette anmacht.

„Wer hat dich denn erschreckt, wenn nicht ich?“, fragt er mit ironischem Unterton.

„Ich habe über uns nachgedacht und schwelgte tatsächlich in ziemlich erotischen Sphären. Da hätte sich jeder erschreckt, sei dir sicher.“

„Oh? Kriegst du etwa rote Ohren?“, neckt er mich und zieht mich lachend an sich.

„Hmmm“, brumme ich. „Ich könnte in dich reinkriechen, ständig!“

Leider hat er mit seiner Beobachtung wohl wirklich recht. Ich überlege, streng darauf bedacht, nicht wieder abzudriften, was genau ich noch tun soll oder kann, um endlich wieder vollkommen rückhaltlos vertrauen zu können.

Um mich sicher und aufgehoben zu fühlen, selbst wenn ich allein zu Hause bin.

~*~

Eine Woche ist es nun her, dass ich die Datei vollständig beendet habe. Auch mit dem zweiten Lesen bin ich durch, doch hat sich an meiner Schreckhaftigkeit ebenso wenig geändert wie an meiner hilflosen Panik, als ich jenes bestimmte Kapitel zum dritten Mal gelesen habe.

Glücklicherweise war Kilian im Fitnessstudio, als ich an der Stelle angekommen bin. Sonst hätte er sich wieder endlose Sorgen zusätzlich gemacht.

Heute ist Dienstag, und da Kilian wieder in der Muckibude sein wird, kann ich etwas tun, von dem ich ernsthaft hoffe, dass es mir helfen wird.

Ich habe vorhin, von der Arbeit aus, noch bei Allen angerufen und ihn um ein Treffen gebeten.

Deshalb parke ich um kurz vor 20 Uhr am Club und gehe hinein.

Am Empfang steht diesmal nicht Sammy, sondern eine Dragqueen, die ich bisher nicht kenne.

Wie es sich gehört, stelle ich mich vor.

„Guten Abend. Ich bin Valentine. Allen erwartet mich.“

„Ich bin Lydia, guten Abend, Valentine. Der Boss sitzt in der Bar.“

„Vielen Dank“, erwidere ich und gehe zunächst zur Garderobe, um meinen Mantel und den Schal loszuwerden.

Es ist zwar nicht mehr arschkalt, aber ‚frühlingshaft‘ würde ich das aktuelle Wetter trotzdem nicht nennen.

Allen zu finden, ist auch bei einer gut gefüllten Bar nicht schwer, heute jedoch ist kaum etwas los. Unter der Woche und so früh am Abend haben die wenigsten Berufstätigen Zeit, hierher zu kommen.

„Hallo Wolf“, begrüßt Allen mich, kaum dass ich an der Sitzecke angekommen bin, in der sich der Clubbesitzer gerade allein aufhält.

„Nabend Allen. Danke, dass du Zeit hast.“

Er schürzt nickend die Lippen. „Gern, ich bin gespannt, worum es geht.“

Tja, nun wären wir beim Eingemachten angekommen …

„Es geht darum, dass ich den Eindruck habe, mit niemand anderem darüber sprechen zu können.“

„Hm“, macht er. „Worüber genau?“

Eine Bedienung steht urplötzlich und lautlos am Tisch, ich bestelle eine Cola, Allen nickt nur, dann verschwindet sie wieder und wir sind erneut allein.

„Du weißt von Stefan, wie ich ticke, und bestimmt auch, dass ich Pay-Dom war.“

Wieder nickt er.

„Okay, das ist sicherlich nicht das Entscheidende, aber wichtig ist, dass ich sehr erfolgreich war und ein echt gut laufendes Geschäft hatte, bis ich …“, ich atme durch und setze fort, „von mehreren Typen überfallen und missbraucht wurde.“

Meine Eröffnung lässt ihn harsch Luft holen und er sinkt verblüfft gegen die Rückenlehne der Sitzbank.

„Du hast also was ganz Ähnliches durch wie Kilian und ich“, murmelt er, bevor er sich wieder aufrichtet und die Unterarme auf dem Tisch ablegt. „Hast du dir Hilfe geholt? Therapeutische, meine ich?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich habe innerhalb von wenigen Wochen alle Zelte abgebrochen und bin nach Weidenhaus gezogen“, bekenne ich.

„Nicht gut“, erwidert er ernst.

„Ich weiß, aber es erschien mir im Herbst als die einzige Möglichkeit, um schnell und halbwegs sicher aus dem Gefahrenbereich zu kommen.“

Seine Brauen ziehen sich zusammen. „Du fürchtest, sie hätten das noch öfter getan?“

„Es war eine Art Warnung“, gebe ich zurück. „Aber seitdem habe ich durch die Flucht hierher wirklich Ruhe.“

Das muss ich dazusagen, sonst fange ich auch hier an, mich hastig umzusehen.

„So wirklich beruhigend scheint das für dich aber nicht zu sein.“ Allens Auffassungsgabe ist schlicht bemerkenswert, aber was erwarte ich von einem guten Dom auch anderes?

„Nein. Der Punkt ist, dass ich mit Kilian nicht darüber reden kann oder will. Such es dir aus. Er darf auch niemals erfahren, dass ich Callboy war und noch viel weniger, dass ich ein Pay-Dom war.“

„Aber wenn ich drüber nachdenke, wie ihr an Karneval und auch sonst bei unseren Treffen drauf wart, scheint die Frage, wer bei euch der Dominante ist, endgültig geklärt zu sein. Kilian wirkte sehr ausgeglichen.“ Ein Kompliment, das weiß ich genau.

„Wir sind noch meilenweit davon entfernt, dass er wieder er selbst ist, aber ja, er kann es mir nun erlauben, ihn zu toppen. Daran war vor ein paar Monaten nicht zu denken.“

So offen darüber zu reden, funktioniert nur, weil ich weiß, dass Allen niemals mit jemandem darüber sprechen würde. Nicht einmal Ryan wird er es sagen, zumindest nicht, wenn er sich an den unausgesprochenen Dom-Kodex hält.

Jedenfalls vertraue ich ihm.

„Das ist ein guter Anfang, Wolf. Du solltest ruhig ein bisschen stolz darauf sein.“

„Das würde mir aber nichts nutzen. Stolz ist nichts, wodurch sich irgendetwas verbessert. Aber darum geht es ja auch nicht. Ich will, dass Kilian sich wohl fühlt, nichts anderes zählt.“ Ich seufze. „Nur, dass mein Gemütszustand nicht gerade einwandfrei ist und ich ihm Sorgen bereite, die er sich schlicht nicht machen müssen sollte.“

Ich erzähle von meiner Schreckhaftigkeit und davon, dass ich auch ihm, Allen, nicht von Angesicht zu Angesicht sagen können werde, was wirklich geschehen ist.

Schließlich berichte ich ihm von meinem schriftlichen Versuch.

„… aufgeschrieben und es reicht nicht aus, leider. Ich meine, die Panik ist noch da, aber ich denke, wenn ich mein Wissen um alles mit jemandem teilen könnte, würde es mir vielleicht endlich einen Teil der Belastung nehmen.“

„Und dieser jemand soll ich sein?“, hakt er verständig nach.

„Ja, es wäre toll, wenn ich dir einen Ausdruck der Datei geben könnte und ich meine Erlebnisse loswerden kann, ohne noch mal drüber reden zu müssen.“

Allen nickt und mustert mich nachdenklich. „Wenn du das möchtest, werde ich sehr gern versuchen, dir auf diese Art zu helfen. Allerdings kann ich dir nur dazu raten, dir auch professionelle Hilfe zu suchen. Ich habe damals mit einem Therapeuten gemeinsam erarbeitet, was ich brauchte, verloren hatte und wiederfinden musste.“

„Klingt schrecklich, ganz ehrlich. Ich war ziemlich platt, als ich deine Andeutung in Richtung Kilian mitbekommen habe.“

„Das Schlimmste daran war, dass ich meine Beziehung zu Ryan damit beinahe zerstört hätte, weil ich ihn aus all meinen Problemen heraushalten wollte.“

Seine Eröffnung lässt mich hart schlucken. „Ernsthaft? Aber Ryan ist psychisch nicht angeschlagen gewesen, oder? Ich meine, er hat nicht erlebt, was wir durchhaben.“

Allen schüttelt den Kopf. „Nein, glücklicherweise ist ihm so etwas nie passiert. Aber die Tatsache, dass er ernsthaft überlegt hatte, sich zu trennen, damit ich wieder zu mir kommen kann, war mir auch im Nachhinein noch eine Lehre. Ich würde nie wieder auf die Idee kommen, ihn vor irgendetwas, das mich belastet, zu beschützen. Mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe, Wolf.“

„Denkst du ernsthaft, dass Kilian mit all dem Scheiß den ich hinter mir habe, zurecht käme?“

„Auf jeden Fall besser als mit der Ungewissheit. Du sagst doch selbst, dass du ständig ein schlechtes Gewissen hast, wenn er dich wieder schreckhaft erlebt hat.“

„Hm“, mache ich nachdenklich. „Kilian weiß, dass ich überfallen wurde. Er weiß sogar von beiden Malen. Für ihn wäre es wohl sehr viel schlimmer, dass ich seit langen Jahren eben doch Dom bin, wenn auch nicht in einer festen Beziehung.“

„Da magst du recht haben.“

„Okay, ich verspreche, wenn es mir nicht hilft, dir alles zum Lesen gegeben zu haben, werde ich mich wegen einer Therapie schlaumachen.“

„Willst du mit mir darüber reden, wenn ich es gelesen habe?“

Die Frage lässt mich stocken, weil ich darüber bislang nicht nachgedacht habe.

„Wäre wohl besser, oder? Ich meine, wie soll es mir sonst helfen?“

Er grinst. „Du hattest ursprünglich nicht vor, jemals wieder ein Wort darüber zu verlieren, stimmt’s?“

Ich nicke beschämt. „Ja, wenn ich ehrlich bin, wollte ich es abhaken.“

„Das wirst du nicht schaffen, Wolf. Versuch es erst gar nicht.“

Ich seufze tief. „Ist in Ordnung. Ich will es ja auf eine Art loswerden, die mir meine alte Freiheit zurückgibt.“

„Dann bring mir den Ausdruck die Tage vorbei, und ich melde mich, wenn ich alles gelesen habe. Okay?“

„Ja, klingt gut. Danke!“ Erleichtert sehe ich ihn an.

Interessant! Selbst dieses Gespräch hat, obwohl ich noch gar nicht viel erzählen musste, schon für Erleichterung gesorgt …

Zufrieden und irgendwie beruhigt verlasse ich gegen 22 Uhr den Club und mache mich auf den Heimweg. Bald müsste Kilian zu Hause sein, und ich wäre gern vor ihm da.

Natürlich werde ich ihm von meinem Besuch bei Allen erzählen, es besteht schließlich kein Grund für zusätzliche Geheimnisse, denke ich.


 



~ Ermittlungsstand ~

Seit ich wieder regelmäßig zum Training gehe, habe ich währenddessen viel Muße, über mein neues Leben und die Beziehung zu Wolf nachzudenken.

Früher hat mich mein Kindle begleitet, damit sich zumindest die Stunde auf dem Laufband spannender gestaltete. Heute schicke ich lieber meine Gedanken auf Wanderschaft.

Um mich vor unerwünschten Unterhaltungen zu schützen, stecke ich gleich nach dem Umziehen die In-Ears rein und drehe die Mucke laut auf.

Die meisten Mitglieder kennen mich schon ein paar Jahre und quatschen mich nicht mehr an, aber es tauchen halt ständig neue auf, die meinen, mir erzählen zu müssen, wie toll sie sind.

Mit geschlossenen Augen renne ich vor mich hin, blende die Musik in meinem Kopf aus und denke über die vergangenen Wochen nach.

Inzwischen ist bei uns der Alltag eingekehrt. Wir haben beide unsere Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen wieder aufgenommen, was bedeutet, dass wir auch mal getrennt unterwegs sind.

Wolf geht wieder zum Kampfsporttraining und ich mache weiter Ausdauer- und Kraftsport. Somit sehen wir uns an vier Abenden in der Woche erst gegen 22 Uhr, wenn wir von dem kurzen Treffen direkt nach Feierabend absehen.

Erst hatten wir überlegt, ob wir auch die sportlichen Betätigungen gemeinsam machen wollen, haben uns aber dagegen entschieden. Es ist für eine vertrauensvolle Beziehung einfach nicht nötig, permanent aufeinander zu hocken.

Im Gegenteil! Ich finde, jeder braucht ein gewisses Maß an Freiraum, muss sich auch mal allein mit Freunden treffen können.

Durch meinen Ex, der mir sehr viele Kontakte verboten hat, weiß ich, wie schrecklich es ist, niemanden zu haben, mit dem man sich über alles Mögliche austauschen kann.

So nutzen Wolf und ich unsere freien Abende hin und wieder dazu, uns mit einem oder mehreren aus unserer stark angewachsenen Clique zu treffen.

Meine Gedanken wandern weiter, bringen mich auf direktem Weg zu Wolf und unserem spannenden neuen Sexualleben.

Seit ich mich von ihm das erste Mal nehmen lassen konnte, ohne dass irgendwelche dämlichen Ängste mich zurückschrecken ließen, geht es mir blendend. Wolf ist wahnsinnig einfühlsam, so dass ich keine Probleme mehr habe, mich rückhaltlos hinzugeben.

Ich überlege, ob ich ihn beim nächsten Mal um eine härtere Gangart bitten soll. Mir läuft ein erregender Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, mich ihm völlig zu unterwerfen. Von Wolf durch lustvollen Schmerz an meine Grenzen getrieben zu werden, stelle ich mir unglaublich befriedigend vor.

Allerdings frage ich mich noch immer, ob es für ihn ebenso erfüllend ist. Schließlich habe ich nicht vergessen, wie sehr er auf mein dominantes Verhalten abgefahren ist. Auch er hat die Unterwerfung und den Schmerz genossen.

Ob wir wohl einen Mittelweg finden, bei dem wir beide zu unserem Recht kommen?

Von meiner Seite aus kann ich definitiv ‚Ja‘ sagen.

Ich werde niemals ein richtiger Dom wie Stefan, Michael oder Allen, dazu bin ich viel zu sehr Sub. Für Wolf, in unseren privaten vier Wänden, kann ich es jetzt aber wieder sein. Da bin ich mir ganz sicher.

Wenn er noch fit genug ist, wenn ich nach Hause komme, werde ich dieses Thema mal ansprechen und seine Meinung erfragen.

~*~

Am Freitag, in der verkürzten Mittagspause, erreicht mich eine Nachricht von Michael. Er bittet um Rückruf, da er dringend etwas mit mir besprechen muss.

Ich begebe mich außer Hörweite meiner Kollegen und wähle Michaels Handynummer an.

„Hey Micha, gibt es etwas Neues?“, frage ich neugierig.

„Hast du heute Zeit, kurz auf dem Revier vorbeizukommen? Am Telefon können wir nicht alles klären“, entgegnet er.

„Hm, ich muss bis fünfzehn Uhr arbeiten, danach könnte ich kommen.“

„Okay, dann warte ich auf dich. Bis nachher.“

„Bis dann“, entgegne ich und lege auf.

Sofort kehren meine obligatorischen Magenschmerzen zurück, die sich immer zu Wort melden, wenn es um Paul geht.

Ich tippe schnell eine Nachricht an Wolf, dann muss ich zurück an die Arbeit.

Mit ihm werde ich telefonieren, sobald ich im Auto sitze.

Die Zeit bis zum Feierabend zieht sich endlos in die Länge. Andauernd blicke ich zur Uhr, was das Ganze natürlich nicht besser macht.

Was Micha wohl herausgefunden hat, dass er es mir am Telefon nicht sagen konnte? Ich zerbreche mir den Kopf, aber ich finde beim besten Willen keine brauchbare Erklärung.

Meinen Magenbeschwerden sind diese Grübeleien nicht besonders zuträglich und wenn ich nicht gerade zur Toilette renne, laufe ich plan- und ziellos durch die Werkshalle.

Jemand zupft am Ärmel meines Longsleeves.

Erschreckt bleibe ich stehen und drehe mich um.

Günter steht vor mir und mustert mich besorgt.

„Junge, was ist mit dir los? Ich beobachte dich, seit du aus der Pause zurück bist. Bist du krank?“

„Nein, nein“, erwidere ich hastig. „Du weißt doch, manchmal spielt mein Magen verrückt.“

Er sollte sich wirklich erinnern können, dass ich diese Probleme nach der Trennung von Paul sehr häufig hatte.

Leider bringe ich ihn damit auf eine falsche Spur.

„Hast du Ärger mit Wolf?“, fragt er alarmiert.

„Bei uns ist alles okay“, beruhige ich ihn. „Ich habe nachher einen unangenehmen Termin, der mich aufregt.“

„Was denn für einen? Kann ich dir eventuell helfen?“

Ich denke einen Moment darüber nach, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll, entscheide mich aber dagegen. Es würde viel zu lange dauern, bis ich ihm alles erklärt hätte und wie ich ihn kenne, würde er einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er hören müsste, was Paul mir angetan hat.

„Du kannst mir nicht helfen, aber danke für das Angebot.“ Seine erste Frage überhöre ich geflissentlich.

„Warum denken meine Kinder eigentlich alle, dass sie mich für dumm verkaufen können? Sigrid und ich wissen schon lange, dass du etwas vor uns verheimlichst, Kilian. Vertraust du uns nicht mehr?“ Günters trauriger Blick geht mir durch und durch.

Ich lege den Arm um seine Schultern und ziehe ihn näher zu mir.

„Natürlich vertraue ich euch, Paps. Irgendwann erzähle ich euch alles, aber diese Sache heute muss ich allein durchziehen. Du kannst da leider gar nichts für mich tun.“

Dummerweise treibt es mich schon wieder zum Klo.

„Paps, ich muss …“ Hektisch zapple ich herum.

„Dann lauf und danach machst du Feierabend. Ohne jede Diskussion!“, ruft er mir hinterher, da ich bereits losgesprintet bin.

Erleichtert ziehe ich mich anschließend um und packe meine Arbeitsklamotten zusammen.

Auf dem Weg zum Auto suche ich meinen Bluetooth-Kopfhörer raus und pfriemle ihn ins Ohr. So kann ich während der Fahrt telefonieren.

Zunächst sage ich Micha Bescheid, dass ich bereits unterwegs bin. Anschließend rufe ich Wolf an.

Er ist zwar noch im Büro aber es hat niemand etwas dagegen, wenn wir mal miteinander sprechen. Ich melde mich ja auch nur höchst selten.

Wir reden, bis ich das Revier erreiche. Unser Gespräch hat mich gut abgelenkt und mein Magen hat sich zum Glück etwas beruhigt.

Wolf hat sofort angeboten, mich zu begleiten, das habe ich aber kategorisch abgelehnt. Inzwischen bin ich absolut in der Lage, so was allein durchzustehen.

Klar fällt es mir noch immer nicht leicht, mit Außenstehenden über Paul zu reden. Wie die letzten Stunden gezeigt haben, schlägt mir die ganze Sache immer noch auf den Magen. Trotzdem verfüge ich über die innere Kraft, mich dem allein zu stellen.

Nachdem ich alle Kontrollen hinter mich gebracht habe, klopfe ich an Michas Tür und trete nach seiner entsprechenden Aufforderung ein.

Nur zögernd schließe ich die Tür hinter mir, gehe aber keinen Schritt weiter in den Raum. Ein Mann, etwa Mitte dreißig, hockt auf der vorderen Kante des Schreibtisches und blickt mich neugierig an.

„Kilian, das ist mein Kollege Jörg Kerner. Wir arbeiten zusammen an dem Fall und ich wollte, dass ihr euch kennenlernt, falls ich mal verhindert bin“, klärt Micha mich auf.

Ich bin zwar nicht begeistert, dass noch jemand dabei ist, wenn ich gleich erfahre, worum es geht, aber es sieht so aus, als müsste ich mich langsam mal daran gewöhnen.

„Hallo Kilian, der hier“, breit grinsend richtet Jörg einen Finger auf Micha, „hat gesagt, es ist okay, wenn wir sofort zum ‚Du‘ übergehen.“ Sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht, als er aufsteht und mir die Hand reicht.

„Soso, hat er das? Ziemlich dreist von ihm“, erwidere ich mit einem Zwinkern und ergreife seine Rechte, um sie zu schütteln.

„Hallo Jörg, freut mich, dich kennenzulernen“, setze ich nach.

„Seid ihr damit fertig, euch über mich lustig zu machen?“, mault Micha streng.

„Ich habe nur Tatsachen weitergegeben, also reg dich ab“, gibt Jörg ihm Kontra. Der Mann wird mir immer sympathischer.

„Pffffft!“ Weiter kommentiert Micha das nicht.

Ich kichere leise vor mich hin und ernte einen strafenden Blick, der mich seltsamerweise nicht erschüttert, obwohl ich weiß und bei jedem Treffen spüre, dass Micha ein Dom ist.

„Setzt euch, damit ich zum Thema kommen kann.“

Jörg und ich hocken uns auf die Stühle vor dem Schreibtisch. Jetzt werden meine Hände vor Aufregung doch etwas feucht und ich wische sie möglichst unauffällig an meiner Jeans ab.

Ich erfahre, dass die beiden Typen, die ich identifizieren konnte, inzwischen in U-Haft sitzen. Bei den vorgenommenen Hausdurchsuchungen wurden diverse Videos gefunden, mit immer wechselnden Opfern.

Als Micha mir sagt, dass sie gegen Paul nichts in der Hand haben, weil seine Kumpels bisher jede Aussage verweigern, bin ich ziemlich sauer. Was mich aber richtig wütend macht, ist, dass der Typ, der mir erzählt hat, Paul wäre der Initiator gewesen, abstreitet, jemals mit mir darüber gesprochen zu haben.

„Der Arsch hängt garantiert mit drin!“, wettere ich los.

„Der Meinung sind wir auch, können ihm aber bisher nichts nachweisen“, erklärt Jörg.

Micha bittet mich, zu ihm hinter den Schreibtisch zu kommen.

Auf dem Monitor seines PCs zeigt er mir verschiedene Standbilder aus den anderen Videos und fragt, ob ich eines der Opfer kenne.

Ich bin ziemlich überrascht, dass man diesen Männern keine Maske aufgesetzt hat, wie es bei mir der Fall war.

Zwei davon habe ich schon mal im Double D gesehen, weiß aber weder ihre Namen noch die ihrer Doms.

„Das dürfte kein Problem sein. Der Besitzer ist bestimmt zu einem weiteren Gespräch bereit“, meint Jörg.

„Ruf ihn gleich mal an und mach einen Termin aus“, fordert Micha.

Jörg nickt und verlässt den Raum.

„Wenn wir diese drei Opfer finden können, hoffe ich, dass sie zu einer Aussage bereit sind. Dann hätten wir auf jeden Fall noch bessere Karten gegen diese Bande“, sagt Micha.

„Vor allem wäre ich vor Gericht nicht der einzige Zeuge“, nuschle ich bedrückt. Das macht mir nämlich am meisten Sorgen. Ich will nicht allein diesen brutalen Arschlöchern gegenübersitzen.

„Sind wir fertig? Kann ich gehen?“

„Nein, du hast noch ein paar Fotos vor dir. Es gibt noch zwei weitere Drecksäcke, die bei dieser Schweinerei mitgemacht haben.“

Ich seufze ergeben und richte den Blick auf den Monitor.

Das neue Bild zeigt einen maskierten Mann, der mit einer Bullwhip gerade zum Schlag ausholt.

Übergangslos sind meine Magenschmerzen wieder da. Auch wenn man nur die untere Hälfte des Gesichtes der Person sehen kann, weiß ich sofort, wer das ist.

„Paul!“, entfährt es mir übermäßig laut.

Nicht nur ich zucke zusammen, auch Micha scheint durch meinen Schrei leicht geschockt.

„Bist du sicher?“, hakt er nach.

„Aber so was von“, bestätige ich und nicke heftig. „Die Hose mit den seitlichen Stahlstacheln erkenne ich zehn Meilen gegen den Wind, genau wie die dazu passenden Ledermanschetten am Unterarm.“

„Hm, es gibt bestimmt einige Männer, die auf so ein Outfit stehen“, zweifelt er meine Aussage an.

„Entschuldige bitte, aber ich war neun Jahre mit dem Kerl zusammen. Da sollte ich wohl in der Lage sein, ihn an seinem Körperbau und seiner Haltung zu erkennen. Außerdem … siehst du den dunklen Fleck auf seiner linken Schulter? Das ist ein Muttermal“, motze ich aufgebracht.

„Ganz ruhig, Großer. Ich will nur sicher sein.“

„Ich schwöre jeden Eid darauf, er ist es!“, bekräftige ich noch mal.

„Okay, dann haben wir ihn am Arsch.“ Micha grinst zufrieden.

Er zeigt mir noch ein letztes Standbild.

Obwohl ich nicht zu hundert Prozent sicher bin, meine ich, Robbie zu erkennen. Den Typen, der jetzt behauptet, mir nie etwas von Pauls Beteiligung an dem Überfall auf mich erzählt zu haben.

„Jörg und ich sind derselben Meinung, aber solange wir keine eindeutigen Beweise gegen ihn haben, können wir nichts machen. Auf jeden Fall werden wir ihn im Auge behalten.“

Wie aufs Stichwort betritt der Erwähnte den Raum.

„Ich habe für morgen Vormittag einen Termin vereinbart“, wendet Jörg sich an Micha.

„Super.“

Bis die beiden sämtliche Neuigkeiten ausgetauscht haben, hocke ich stumm da. Ich will nur noch nach Hause, mich in Wolfs Arme flüchten und ihm erzählen, wie schlimm sich alles entwickelt.


 © Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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