Im nachstehenden YouTube Video bekommt Ihr einen Vorgeschmack auf die demnächst erscheinende High Fantasy Trilogie meiner besseren Hälfte, Nathan Jaeger.
Dienstag, 24. Oktober 2023
Dienstag, 3. Oktober 2023
Kätzchenzähmen ist nichts für Weicheier
Klappentext:
Tyler Felonsteins Bestimmung führt ihn um die ganze Welt und
nirgendwo hält er sich länger als nötig auf. Er sieht, was normalen Menschen
verborgen bleibt, und bekämpft als flüchtiger Schatten in der Nacht die
Monster, die die Menschheit auf die eine oder andere Art bedrohen.
Sein neuester Auftrag bringt ihn in die nächtlichen Gassen
von Hamburg und dort hat er gleich mehrere unliebsame Begegnungen.
Torben Fuchs ist ein erfolgreicher Comicbuchautor. Seine
Superhelden sind dabei nicht nur Unterhaltung für die Leser, sondern bieten ihm
selbst die Möglichkeit, seine Zeit am Zeichentablett mit diesen großen, starken
Männern zu verbringen, die ihn im wahren Leben schlicht übersehen.
Eine merkwürdige Beobachtung in der Gasse neben seinem Haus liefert
ihm die Idee für eine brandneue Serie.
In seinem Kopf und im Computer entsteht ein neuer Superheld,
der dem Fremden aus der Gasse sehr ähnlich ist, aber wieso steht ebendieser
Traummann plötzlich in Torbens Bürotür und verlangt, dass er mitkommt?
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[Leseprobe] Kätzchenzähmen ist nichts für Weicheier
1 ~ Tyler
Ich hasse die Nacht, hasse das, was sie aus mir macht, aber
danach hat noch nie jemand gefragt.
Wieso nicht?
Wieso interessiert es niemanden, ob ich können will, was man
mir auferlegt hat?
Nacht für Nacht laufe ich durch die Straßen irgendeiner
Stadt, eines Dorfes, einer Metropole, doch nie erreiche ich mein Ziel.
Nie finde ich, was ich wirklich suche.
Die Einzigen, die mir begegnen sind Obdachlose, Polizisten,
Gangster …
Nun ja, so ganz stimmt das nicht.
In dieser Nacht schlendere ich ziel- und planlos durch die
Straßen von Hamburg. Es hat einen Grund, wieso Libby mich hierher geschickt
hat, aber noch kenne ich ihn nicht.
Erst vor zwei Wochen bin ich aus Indien zurückgekehrt.
Ein Seufzen entkommt mir in Erinnerung an das Chaos, das ich
dort erlebt habe.
Mit einem heftigen Kopfschütteln versuche ich, die grausamen
und brutalen Bilder loszuwerden.
Mein Leben besteht aus Blut, Tod, Tragödien.
Nichts davon habe ich je gewollt oder gar verlangt!
„Du willst mich doch verarschen“, knurre ich und bleibe in
einer schmalen Gasse stehen, ohne mich umzuwenden.
Nur mein Kopf dreht sich nach links und ein verächtliches
Schnauben entkommt mir.
Das tiefe Grollen der Gestalt keine zwei Meter hinter mir lässt
mich bösartig grinsen und ich warte auf eine echte Reaktion desjenigen, der
versucht hat, sich an mich heranzuschleichen.
Niemand von seiner Art kann das.
Ich bin der Schild, der seinesgleichen abwehren kann.
Soll ich ihn näherkommen lassen?
Mit einem sicherlich furchtbar hochmütigen Gedanken hebe ich
die Sicherheitszone um mich herum auf und warte ab.
Das anhaltende Grollen wird zu einer rauen Stimme. Sehr
tief, kaum entzifferbar, aber ich verstehe die Sprache, in der er spricht,
verstehe jede Sprache, in der seine Gattung sich artikulieren kann.
„Du wirst heute Nacht sterben“, erklärt er, was mir ein weiteres
Schnauben entlockt.
„Ich vermutete ja schon, dass du mich verarschen
willst …“, sage ich und strecke meinen rechten Arm aus.
Er kommt näher und während er sich in Sicherheit wiegt,
materialisiert sich das einschneidige Schwert aus purem Licht, das in meinem
Arm ruht, wenn ich es nicht brauche.
Eine einzige, fließende Bewegung, dann rollt der Kopf meines
Möchtegern-Angreifers in die Schatten zwischen ein paar Kisten, die halbherzig
zu den Müllcontainern gestellt wurden.
„Das wird dich nicht schützen“, grollt der Kopf dumpf aus
dem Müllhaufen und ich trete näher heran, um ihn mit meinem Stiefel
herumzudrehen.
„Würdest du bitte nicht so nuscheln?“, verlange ich höflich,
als sich sein Gesicht zu mir wendet.
„Du hältst dich für schlau, Felonstein, aber du solltest hin
und wieder hinter dich blicken.“
Im nächsten Moment begreife ich mit einem Fluch, dass ich
tatsächlich nicht mit weiteren Angreifern gerechnet habe, und dieser hier nur
eine Ablenkung war.
Ich schaffe es nicht, meinen Schild wieder aufzubauen, bevor
sich glitschige, schwarze Tentakel um meinen Hals schlingen und unerbittlich
zudrücken.
Shit! Tyler, tu was!
Ich drehe mich, soweit ich kann, und verteile Hiebe und
Schläge mit meinem Schwert. Das Licht schneidet durch die Tentakel und ich
klappe nach Luft ringend zusammen.
Eine Falle! Eine gottverdammte Falle mitten in Hamburg!
„Pavois!“, flüstere ich mühsam und spüre, wie mein
Schutzschild sich ausdehnt, mir die Feinde vom Leib hält und sie zugleich
angreift.
Ich hasse die Nacht.
Ich hasse mein Leben.
2 ~ Torben
Puh! Endlich bin ich mit dem Großreinemachen in meinem
Schlafzimmer fertig.
Es wurde echt langsam Zeit. Seit Monaten habe ich die frisch
gewaschenen Klamotten immer nur in die Schrankfächer gestopft, meine Schuhe
beim Ausziehen in irgendwelche Ecken getreten und die schmutzige Wäsche hinterhergeworfen.
Als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich mich
umgesehen und festgestellt, dass ich ein echter Chaot geworden bin.
Geworden ist gut. Meine Mutter hat mich Zeit meines Lebens
als Dreckspatz und Schlampe bezeichnet. Damit lag sie vollkommen richtig, denn
ich war schon als Kind eine Katastrophe in Bezug auf das Halten von Ordnung.
Damit ist jetzt Schluss!
In ein paar Tagen werde ich vierundzwanzig und es ist an der
Zeit, erwachsen zu werden.
Natürlich nicht in allen Bereichen, denn als Comic-Zeichner
muss ich die Welt mit anderen Augen betrachten. Ich darf auf keinen Fall meine
Fantasie ausbremsen, muss meine eigenen Realitäten bewahren, in denen ich als
Superheld die Menschheit vor bösen Mächten oder Dämonen beschütze.
Okay, Superhelden putzen in ihren Abenteuern nie, aber ich will
auch nicht länger in meiner Unordnung leben.
Immerhin verlangen die Bosse meines Verlages, dass ich zweimal
im Monat zu einer Besprechung antanze. Vor jedem Termin werde ich hektisch,
weil ich waschen oder bügeln muss, damit meine Klamotten halbwegs anständig
aussehen.
Obwohl ich total kaputt bin, bin ich stolz auf mich.
Alles liegt sortiert und ordentlich gefaltet in den frisch ausgeputzten
Fächern. Die Schuhe stehen im dafür vorgesehenen Regal und alles, was ich schon
länger nicht mehr getragen habe, befindet sich in zwei großen stabilen Plastikbeuteln
an der Tür.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.
Hm, nach Mitternacht. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es
schon so spät ist.
Egal! Jetzt bringe ich meine Arbeit auch zu Ende.
Wohnungsschlüssel einstecken, die ziemlich schweren Säcke
schultern und ab nach unten.
In dem Acht-Familien-Haus, in dem ich wohne, stehen die
Müllcontainer in einer schmalen Nebenstraße an der Hauswand.
Sobald ich die ziemlich dunkle Gasse betrete, höre ich
komische Geräusche.
Es dauert etwas, bis sich meine Augen an die Dunkelheit
gewöhnt haben, aber dann sehe ich einen ziemlich großen Mann, der blitzschnelle
Bewegungen mit seinem rechten Arm vollführt. Man könnte meinen, er kämpft mit
einem Schwert.
Tiefes Grollen, wie von einem Bären, dringt zu mir herüber.
Ich stelle meine Last möglichst leise ab, schleiche zu den
Müllcontainern und ducke mich dahinter.
Der Mann spricht mit jemandem, obwohl ich außer ihm
niemanden sehen kann.
Nach einer schnellen Drehung nähert er sich den Containern
und ich ziehe den Kopf ein, damit er mich nicht bemerkt.
Erneut murmelt er vor sich hin, wonach ein triumphierendes
Grollen erklingt.
Der Fremde dreht sich um, fuchtelt wieder mit dem Arm.
Danach röchelt er, als bekäme er keine Luft, und kippt um wie ein gefällter
Baum.
Ohne nachzudenken, schieße ich aus meinem Versteck und eile
auf den am Boden Liegenden zu.
Er flüstert etwas, aber in meiner Aufregung verstehe ich
kein Wort.
Ich knie neben ihm nieder, rüttle leicht an seiner Schulter
und frage: „Geht es Ihnen gut? Was ist passiert? Kann ich Ihnen helfen?“
3 ~ Tyler
Kann diese Nacht noch schlimmer werden?
Sie kann. Offensichtlich.
Jemand hat mich gesehen und vermutlich auch mitbekommen, wie
seltsam ich mich benommen habe.
Weder mein Schwert noch meine Angreifer sind für normale
Menschen sichtbar.
Ich rolle mich am Boden zusammen und blinzle nach oben.
Hm, ein Mann, zu sauber für einen Obdachlosen, zu normal
gekleidet für einen Bullen oder einen Gangster …
Ich atme tief durch und springe auf, warte, bis er sich
wieder erhoben hat und lasse mein Schwert in einer beiläufigen Bewegung zurück
in meinen Arm gleiten.
„Es geht mir gut“, antworte ich und wende mich zum Ausgang
der Gasse, an der der milde Lichtkegel einer Straßenlaterne den Bürgersteig
bescheint.
Der Typ folgt mir, auch wenn ich ihn viel lieber losgeworden
wäre.
„Was ist los mit Ihnen? Wieso sind Sie einfach so zu Boden
gegangen nach Ihren … Ninja-Bewegungen?“
Ich bleibe seufzend stehen und wende mich ihm zu.
„Alles ist in Ordnung. Ich bin gestolpert. Danke für Ihre
Sorge, aber ich muss jetzt gehen.“ Ohne auf seine Antwort oder weitere Fragen
von ihm zu warten, schiebe ich meinen Mantel beiseite und die Hände in die
Taschen meines Hoodies, bevor ich die Straße hinab wandere.
Er wird mir hoffentlich nicht folgen und ich habe für heute
wirklich die Schnauze voll!
Tja, vielleicht hätte ich die Messlatte für eine Scheißnacht
in Hamburg nicht so tief hängen sollen, denn nun beginnt es zu allem Überfluss
auch noch zu schütten wie aus Kübeln.
Trotz meines halblangen Ledermantels werde ich innerhalb von
Sekunden vollkommen durchnässt und wünsche mir im Stillen einen Schutzschild
gegen Regen …
Wieso hat noch keiner an so was gedacht?
Hm, vielleicht, weil der Fluch, den irgendein
Sonnenscheinchen sicherlich als Gabe ansehen würde, offensichtlich dazu gedacht
ist, mich für irgendwelche Missetaten in sämtlichen Vorleben zu bestrafen.
Tropfend wie eine Katze, die in der Badewanne gelandet ist,
betrete ich das kleine, heruntergekommene Hotel, in dem ich derzeit wohne.
Man könnte echt meinen, Hamburg hätte für mich mehr zu
bieten als Hinterhalte und Hotels, in denen mehr Leben in als auf den Matratzen
zu finden ist …
Egal.
Ich muss jetzt erst mal ultraheiß duschen und wieder warm
werden, anschließend sollte ich meinen Laptop nutzen und das Netz durchsuchen,
um herauszufinden, wieso dieser Wicht von einem Besiedler es schaffen konnte,
mich so abzulenken!
Ich muss mit Stan reden, nur er kann mir sagen, wie das
überhaupt möglich war!
Selbst nach der Dusche, mit einem Handtuch um die Hüften und
wieder warm, spüre ich die unerbittlichen Griffe der Tentakel um meinen Hals.
Ich strecke den Nacken und drehe den Kopf, um die
Verspannungen loszuwerden.
Nachdem ich mich halbherzig angezogen habe – Sweatpants,
T-Shirt, Socken – werfe ich mich mit einem angewiderten Blick auf das Bett und
ziehe den Laptop an mich heran.
Stan zu mailen, geht schnell. Er wird mich anrufen, wenn er
irgendwelche Hinweise findet, denen ich folgen kann.
Immerhin bin ich hier in der Stadt, die man das Tor zur Welt
nennt, weil ich von Stan und Libby hergeschickt wurde …
4 ~ Torben
Wie ein begossener Pudel, im wahrsten Wortsinn, stehe ich
noch ein paar Minuten in der Gasse und gucke diesem extrem unfreundlichen Typen
nach.
Ja, er hat sich für meine Sorge bedankt, aber in einem Ton, der
deutlich ausdrückte, dass meine Fragen ihn nerven und ich mich verpissen soll.
Nass wie besagter Hund stapfe ich durch den Hausflur nach
oben.
Meine Nachbarin wird morgen wieder anklingeln und meckern,
dass ich Pfützen im gesamten Treppenhaus hinterlassen habe.
Die alte Schnepfe findet jede Woche einen Grund, mich für
irgendwelchen Scheiß anzumaulen. Völlig egal, ob ich der Verursacher war. Sie
lässt mich auch nie zu Wort kommen, gibt nur ihre Tirade von sich, dreht sich
um und geht.
Meine Mitmenschen gehen mir mittlerweile immer mehr auf den
Sack. Sei es beim Einkaufen, Autofahren oder einem Spaziergang im Park.
In den Läden wird man angerempelt, Entschuldigungen sind ein
Fremdwort geworden. Auf den Straßen sind zum Großteil hirnlose Idioten unterwegs,
die drängeln oder einem kackfrech die Vorfahrt nehmen.
Noch schlimmer sind allerdings diese alten weißen cis
Männer, die meinen, sämtliche Wege in den Parks wurden nur für sie und ihre
Fahrräder gebaut. Klingeln, damit man weiß, es nähert sich ein Rad, ist
vollkommen out. Mit wenigen Millimetern Abstand zischen diese Typen an einem
vorbei, dass man fast einen Herzinfarkt erleidet. Wenn man etwas dazu sagt,
werden sie auch noch rotzig.
Für mich ist die Welt zu einem furchtbaren Ort verkommen.
Rücksicht, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind Worte, die nur noch im
Duden existieren.
Es sollte also niemanden wundern, wenn ich mich in meiner
Wohnung einigle und nur im äußersten Notfall nach draußen gehe.
Diese negativen Gedanken sorgen dafür, dass ich mir wütend die
nassen Klamotten vom Leib reiße. Im letzten Moment fällt mir ein, dass ich ja ordentlicher
werden will, daher hänge ich alles auf das kleine Trockengestell an der
Heizung.
Sobald ich unter der Dusche stehe und das angenehm
temperierte Wasser meine kalte Haut erwärmt, schweifen meine Gedanken wieder zu
der merkwürdigen Szene in der Gasse.
In der ganzen Aufregung habe ich die Gefühle, die mich beim
Zusehen überkamen, gar nicht registriert. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich
um den unfreundlichen Typen herum eine extrem starke Aura von Bedrohung wahrgenommen
habe.
Trotz des heißen Wassers jagt diese Erinnerung eine dicke
Gänsehaut über meinen gesamten Körper.
Ich trete aus der Dusche und ziehe nach dem Abtrocknen
meinen flauschig-warmen Bademantel an.
Meine Fingerspitzen kribbeln, ich muss zeichnen! Sofort!
Mit wenigen Strichen skizziere ich das Szenario in der
Gasse.
Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, hält ein
blitzendes, silbernes Schwert in der Hand und kämpft gegen … schemenhafte Monster.
Während ich die Zeichnung betrachte, ergeben die
Armbewegungen des bärbeißigen Kerls endlich einen Sinn.
Ich schließe die Augen, spule die ganze Begebenheit in
meinen Gedanken wie einen Film nochmals ab.
Eindeutig! Er hat gegen jemanden gekämpft, hat mit diesem
Wesen auch gesprochen, obwohl ich nur angsteinflößendes Grollen und Brummen
gehört habe.
Meine Finger mit dem Zeichenstift fliegen über das nächste Blatt.
Ich hauche den Monstern Leben ein, lasse sie den Helden von
allen Seiten angreifen. Köpfe rollen, Tentakel fallen zu Boden, sobald sie sich
um den Hals den Kämpfers geschlungen haben.
Triumphierend steht er am Ende da, hat alle Ungeheuer vernichtet.
Von ihnen bleibt nur eine schwarze, wabernde Pfütze zurück.
Yeah! Ich habe eine neue Graphic Novel im Kopf, die ich bei
der nächsten Sitzung mit den Verlagsheinis vorstellen werde. Mal sehen, was diese
oft mäkeligen Herrschaften davon halten.
Am liebsten würde ich sofort damit beginnen, die Eröffnungssequenz
mit meinem Zeichentablett am PC zu erstellen, aber es ist schon verdammt spät
und ich brauche meinen Schlaf.
Außerdem, wenn mich eine Idee gepackt hat, suchen mich meist
sehr intensive Träume dazu heim und so entwickeln sich sehr viele Folgen mit dem
Superhelden.
5 ~ Tyler
„Hey Ty, wir sind gelandet und sitzen im Taxi. Sag mir
bitte, dass du nicht wieder die hinterletzte Kaschemme als dein Domizil für den
Aufenthalt in einer wunderschönen Stadt wie dieser ausgesucht hast“, plappert
Libby mir in die noch nicht ganz wachen Ohren und ich setze mich abrupt auf, um
mir über das Gesicht zu reiben.
„Äh … doch. Sucht euch was anderes, ich komme zu euch,
wenn ihr eingerichtet seid“, antworte ich und sehe mich gähnend in meinem
wirklich gruseligen Hotelzimmer um.
Die vergilbte Tapete stammt sicherlich noch aus den Zeiten,
in denen man im Hotel rauchen durfte …
Egal, ich sollte mich besser auf Libbys endloses Geplapper
konzentrieren, bevor sie mich anbrüllt oder auflegt, bevor sie ein Hotel
gefunden hat.
Stan und Libby sind meine besten Freunde, wenn ich so etwas
habe. Beide haben gewisse Fähigkeiten und helfen mir, die Typen zu finden, die
ich vernichten soll.
Meist finden diese Kreaturen jedoch mich – wie gestern
Nacht.
„Wir sind im dem Congresszentrum angeschlossenen Hotel,
vierzehnter Stock, Zimmer 1428“, erzählt sie mir und ich muffele eine
Bestätigung.
„Bin in einer Stunde dort.“
Smartphone weg, raus aus dem Bett und nichts wie ins Bad.
Dieser winzige Raum sieht erstaunlich sauber und ordentlich aus im Vergleich
zum Schlafzimmer.
Duschen, rasieren, Zähne putzen, anziehen, dann verlasse ich
mit Schlüsseln und Portemonnaie das Hotel, um mich auf den Weg zu machen.
Hinter dem heruntergekommenen Haus auf dem Parkplatz steht
mein Leihwagen. Ich steige ein, programmiere den Namen des Hotels in meine Navigationsapp
und fahre los.
Ich muss zugeben, jetzt in der Mittagszeit – ohne Regen und
mit hin und wieder durch die Wolkendecke brechenden Sonnenstrahlen – ist
Hamburg wirklich wunderschön.
Eine Schande, dass mich nicht ein Städtetrip, sondern ein
komplizierter Auftrag hergeführt hat.
Ich benötige weniger lange, als ich dachte, und fahre in die
Tiefgarage unterhalb des Congresszentrums.
Die Fahrt mit dem Aufzug erspare ich mir – enge Metallkästen
an vergleichsweise dünnen Stahlseilen gefallen mir nicht.
Außerdem ist das Treppensteigen ein guter Ausgleich für
Jogging, mit dem ich mich sonst gern fit halte.
Stan öffnet mir die Tür zu einer Suite und ich sehe mich mit
einem verächtlichen Grinsen in dem unglaublich gemütlich und schön
eingerichteten Hauptraum um.
Libby grüßt mich von jenseits eines gewaltigen
Blumengestecks auf dem Esstisch und ich umrunde ihn, um sie zu begrüßen.
Wie immer sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl und
hackt mit fliegenden Fingern irgendwelche Buchstabenfolgen in ihren Laptop.
„Hey, wie war der Flug?“, erkundige ich mich.
„Sehr gut“, erwidert Stan. „Setz dich, wir wollen gleich den
Zimmerservice anrufen, also solltest du dir schon mal was aussuchen.“
Er legt mir eine edel aussehende Karte hin und ich schnaube
überrascht, als ich meine absolute Leibspeise – Cheeseburger mit Fritten –
darauf entdecke.
Ich beschließe, den angegebenen Preis zu ignorieren und Stan
nimmt meine Bestellung auf, bevor er den Zimmerservice anruft.
Libby winkt mich näher.
„Hamburg hat etliche Kameras auf den Straßen, die den
Verkehr überwachen. Aber die Gasse, in der du warst, habe ich natürlich nicht
auf Film gefunden. Dafür die Hauptstraße, über die du da hineinmarschiert
bist.“
Ich sehe über ihre Schulter und blicke auf das Video, das
sie abspielt.
Bevor sie etwas sagen kann, sehe ich den Typen, der mich in
der Gasse angesprochen hat.
Er schleppt zwei Säcke um die Hausecke und verschwindet.
„Er war zu derselben Zeit in der Gasse wie du, Ty“, sagt sie
und klingt besorgt.
Ich nicke und setze mich seufzend neben sie an den Tisch.
Mit beiden Händen fahre ich mir durch mein zotteliges Haar und seufze. „Er muss
mich gesehen haben. In jedem Fall hat er mitbekommen, dass ich zusammengeklappt
und am Boden gelandet bin.“
„Aber nicht, wie du gekämpft hast?“, hakt Stan nach, der
seine telefonische Bestellung beendet hat und näher tritt.
„Doch, ich denke, er hat es gesehen. Aber da er weder meine
Angreifer noch Salvatia sehen konnte, dürfte er mich einfach für einen
verrückten Spinner halten.“
Den Namen meines Schwertes erwähne ich selten, und als ich
es jetzt tue, wird mein rechter Arm warm und ich massiere ihn gedankenverloren.
„Du hast mit ihm geredet? Hat er dich angefasst?“, will Stan
alarmiert wissen.
Ich sehe zu ihm hoch und blinzle, während ich darüber
nachdenke. „Hm, er hat meine Schulter berührt, als ich am Boden lag. Er kniete
neben mir.“
„Merde!“, entfährt es Libby und ich kichere verblödet.
„Seit wann fluchst du auf Französisch?“
„Lenk nicht ab, Ty! Wenn er dich berührt hat, könnte er
Reste von den Angreifern angefasst haben!“, weist Stan mich zurecht.
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich kann es sowieso nicht
mehr ändern!
„Mach mich nicht an, Stan“, sage ich genervt. „Der Typ hat
nichts gesehen, also wird er nach Hause gegangen sein und alles ist gut.“
6 ~ Torben
Nach einer fürchterlichen Nacht reißen mich die im
Dauerbetrieb schrillende Türklingel und heftiges Wummern gegen meine
Wohnungstür abrupt aus dem Schlaf.
„Torben! Mach auf, ich weiß, dass du da bist!“, brüllt
jemand mit panischer Stimme.
Niko! Mein bester Freund und einer der wenigen, der näher an
mich herankommt.
„Boah! Was veranstaltest du denn für ein Theater? Ist jemand
gestorben?“, frage ich mürrisch, nachdem ich ihn reingelassen habe.
Mit in die Seiten gestemmten Armen guckt er mich aufgebracht
an.
„Ja! Ich dachte, du liegst hier tot rum. Weißt du
eigentlich, wie spät es ist?“
Nach einem Blick auf mein linkes Handgelenk verstehe ich,
was er meint. Es ist zehn nach zwei und ich war mit ihm um zehn Uhr zum
Frühstück verabredet.
„Oh verdammt, tut mir echt leid. Ich war die halbe Nacht wach,
weil mich ultramiese Träume immer wieder aufgeschreckt haben.“
„Dann ist es ja gut, dass ich Brötchen mitgebracht habe. Du
hast hoffentlich Belag im Haus?“ Wie eine Trophäe schwenkt er einen Stoffbeutel
vor meiner Nase hin und her.
„Ja, habe ich. Deck schon mal den Tisch, ich springe schnell
unter die Dusche.“
Kaum habe ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen,
überkommen mich Beklemmungen und Angst.
Ich gucke mich um, ziehe sogar den Duschvorhang zur Seite,
aber hier ist niemand.
Der Blick in den Spiegel lässt mich zusammenzucken.
Himmel, ich habe dunkle Ränder unter den Augen und überhaupt
sehe ich aus, als hätte ich drei Wochen nicht geschlafen.
Nach dem Duschen, Zähneputzen und Rasieren bin ich zumindest
halbwegs vorzeigbar.
Allerdings ist das ängstliche Gefühl immer noch da und
begleitet mich auch ins Schlafzimmer, während ich mich anziehe. Erst als ich
wieder im Wohn-Esszimmer stehe, verschwindet es.
Nico war echt fleißig. Der Tisch ist gedeckt, aus den Kaffeebechern
steigt Dampf auf und verbreitet seinen aromatischen Duft.
„Danke, du bist mein Lebensretter“, sage ich albern, um wenigstens
den Eindruck zu erwecken, ich wäre wieder okay.
„Jaja, und jetzt hock dich hin. Ich will wissen, warum du so
scheiße aussiehst. Was ist passiert?“
Nach den ersten Schlucken aus meiner Tasse erzähle ich Nico,
was ich gestern Nacht in der Seitenstraße beobachtet habe.
„Warte, ich zeig es dir.“ Ich springe auf und hole die
Zeichnungen aus dem Arbeitszimmer.
Kurz verharre ich, da mich schon wieder diese komischen
Gefühle überkommen. Anscheinend passiert das, wenn ich allein bin.
Ich ignoriere die körperweite Gänsehaut und gehe wieder zu
Nico.
Er sieht sich an, was ich zu Papier gebracht habe.
„Hast du diese Dämonen oder was auch immer sie sind,
wirklich gesehen?“, fragt er.
„Nein, natürlich nicht. Aber nachdem ich den Kerl gezeichnet
hatte, schwirrten die Bilder der Angreifer plötzlich durch meinen Kopf.“
„Echt genial! Daraus kannst du wirklich was machen. Aber du
hast mir noch nicht gesagt, warum du kaum geschlafen hast.“
Gute Frage. Wenn ich ihm erzähle, wie real diese Monster in
meinen Träumen waren, hält er mich für verrückt.
Ich habe die Viecher gerochen, ihre gutturalen Laute gehört
und sie haben mich umzingelt, mir den Atem geraubt …
Danach bin ich dann jedes Mal schweißgebadet aufgewacht.
Nico sieht mich die ganze Zeit aufmerksam an.
„Ach, Albträume halt. Ich erinnere mich aber nicht an
Einzelheiten“, wiegle ich ab.
Er gibt ein „Hm“ von sich und ich sehe ihm an der
Nasenspitze an, dass er mir nicht glaubt.
Da ich nicht weiter darüber reden will, wechsle ich das
Thema.
Nico ist in erster Linie Illustrator von Kinderbüchern für
einen Verlag. Da man davon allein nicht leben kann, arbeitet er nebenbei für
Werbefirmen und entwirft ansprechende Verpackungen für Nahrungsmittel und Getränke.
Damit hat er auch sein Studium finanziert.
„Wie ist denn bei dir die Auftragslage? Hast du viel zu
tun?“ Hoffentlich lässt er sich damit ablenken.
„Ich kann nicht klagen. Eigentlich habe ich gar keine Zeit,
so lange bei dir rumzusitzen“, erklärt er und lacht.
„Dann sieh zu, dass du deine Brötchen mampfst und dann
verschwindest.“
„Charmant wie immer, Torben. Wundert mich nicht, dass die
Kerle nach einem One-Night-Stand weglaufen.“ Breit grinsend sieht er mich an.
„Ach, jetzt werden wir auch noch persönlich“, pampe ich und
grinse fies.
Er weiß, dass ich es nicht böse meine oder beleidigt bin. So
reden wir immer miteinander.
Eine halbe Stunde später verabschiedet er sich wirklich und sobald
ich die Wohnungstür geschlossen habe, bekomme ich wieder diese Beklemmungen.
Ich suche alle Räume ab und schließe sämtliche Fenster,
sogar die Schlüssel an Schranktüren drehe ich herum.
Es hilft nichts, das miese Gefühl bleibt und sämtliche
Härchen auf meinen Armen stehen zu Berge.
Torben, du hast einen Knall! Geh arbeiten, dann bleibt dir
keine Zeit, über diesen Scheiß nachzudenken.
7 ~ Tyler
Ich will nicht hören, was Libby mir am Telefon erzählt, als
ich nach zwei ereignislosen Nächten wieder in der Nähe der Gasse unterwegs bin,
in der der Besiedler mich in eine Falle hat tappen lassen.
Auch wenn mir so etwas wie Angst oder das Gefühl von
aufsteigender Furcht vollkommen abgehen, weil es schlicht nichts zu fürchten
gibt für jemanden, der beinahe in jeder Nacht gegen die fiesesten Dämonen
kämpft, bereiten mir die letzten Ereignisse Sorgen.
Nicht einmal meinen eigenen Tod fürchte ich. Mein Platz in
der Hölle ist längst reserviert und es wird ein endloser Spaß werden,
ausgerechnet mit denen das Nachleben zu verbringen, die ich persönlich in die
Kreise der Hölle geschickt habe.
Ich finde, der Vergleich mit einem erfolgreichen Detective,
der in den Knast gesperrt wird, in dem die Hälfte der Insassen seinetwegen
einsitzen, passt wirklich gut.
Nun ja, ich sollte vielleicht lieber zuhören, was Libby zu
sagen hat.
Gestern haben sie und Stan die Gasse über die
Videoüberwachung im Auge behalten. Der Kleine, der seinen Müll mitten in der
Nacht loswerden wollte, hat sein Haus nur einmal verlassen. Sich dabei ständig
umgesehen, ob ihn jemand verfolgt hat.
Im Gegensatz zu mir ist Libby sehr besorgt und Stan hat sich
bereits zweimal mit mir gestritten, damit ich ihre Sorge ernster nehme.
Fällt mir im Traum nicht ein!
Ich habe das Video gesehen, in dem er wie ein verschrecktes
Kätzchen über den Bürgersteig geschlichen ist.
Vielleicht hat er einfach eine Macke oder er mag seine
Mitmenschen so gern, wie ich meine?
„Libby … Was soll ich deiner Meinung nach machen? In
der Gasse campen und abwarten, ob er wieder auftaucht? Wieso sollte er?“,
meckere ich und sehe mich um, ob mich jemand reden hört.
Libby und Stan sind seit gestern in einem Haus schräg
gegenüber der Gasse und haben bemerkt, dass der mögliche Zeuge meiner
nächtlichen Tätigkeiten manchmal seine Jalousetten auseinanderschiebt, um
rauszusehen.
Insgesamt erscheint Libby dieses Verhalten
besorgniserregend.
Natürlich, sie hat einen sechsten und siebten Sinn für
solche Dinge.
Wenn sie vermutet, dass er mit seiner Berührung an meiner
Schulter ein Tor in die Hölle aufgestoßen hat, durch das er nun heimgesucht
wird, dann ist das durchaus im Bereich des Möglichen.
„Und was, wenn ein Besiedler bei ihm einzieht?! Du klingelst
jetzt bei ihm und fragst, ob er in Ordnung ist!“, schimpft sie mich an und ich
schaffe es nur mit Mühe, nicht nach oben zu ihrem Beobachtungsposten zu sehen
und ihr einen Vogel zu zeigen.
„Du spinnst doch! Libby, wenn du nachsehen und dich
vergewissern willst, dann machst du das. Ich komme, sobald du Hilfe brauchst,
aber ich bin für diese Samariternummer nicht gemacht!“, zischele ich.
„Ich weiß“, sagt sie und die zwei Worte klingen mehr wie ein
tiefes Seufzen.
Stan murrt im Hintergrund, sicherlich hört er zu …
„Stan, du kannst sie begleiten. Wenn ihr was findet, sehe
ich es mir heute Nacht an.“
Freitag, 1. September 2023
Flirt in Florenz
Klappentext:
Jannik Gerards ist mit seinen Motorradfreunden auf großer
Tour nach Italien, um Strand, Kultur und Menschen zu erleben.
In Florenz auf der Piazza della Signoria treffen
seine Freunde und er auf Daniele, einen smarten Halbitaliener, der nicht nur
mit seinen Händen, sondern auch mit seiner Zunge sehr flink sein kann.
~*~
Daniele Weißenberg verbringt seine Sommer in Florenz, um als
Straßenkünstler die Touristen in Portraits oder Karikaturen zu zeichnen. Zudem
genießt er das süße Leben an jedem Wochenende mit einem anderen Urlauber.
Im Herbst wechselt er zurück nach Deutschland, um im
Ristorante seiner Eltern zu kellnern.
Eine Leseprobe findet Ihr hier: Klick
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1 Daniele
Ich liebe mein
Leben!
Ganz ehrlich, ich
meine das nicht ironisch.
Die Sonne scheint, die
wunderbare Stadt Firenze, in der ich momentan lebe und arbeite, bietet mir
alles, was ich brauche und will.
Kultur, gutes
Wetter und Kundschaft.
Ich bin Zeichner,
portraitiere Touristen, die auf der Piazza della Signoria umherwandern,
weil sie als Etappenziel ihres Sightseeings die Uffizien oder die Statuen an
der Piazza auf dem Plan haben.
Nun ja, die meisten
sind wohl wegen der David-Replik hier. Mit Abstand das beliebteste Ziel der
Touristen aus aller Welt.
Etliche meiner
Kollegen sitzen deshalb tagsüber wie ich auf einem der quadratischen, etwa
stuhlhohen Betonpoller auf der Piazza und warten unter Sonnenschirmen oder
Pavillons neben ihren Staffeleien, Klappstühlen und ihrem Handwerkszeug auf
Männer, Frauen und Kinder, die wahlweise eine Karikatur oder ein Portrait mit
nach Hause nehmen wollen.
Ich weiß nicht mehr
genau, wie viele Kohle- und Kreidezeichnungen ich heute verkauft habe.
Mit routinierten
Griffen und Bewegungen raffe ich die Einrichtung meines Freiluft-Ateliers auf
meinem Handwagen zusammen und mache mich nach Grüßen an meine Kollegen auf den
Heimweg.
Ein paar Straßen
weiter befindet sich das Ristorante Ponte Vecchio, das mein Onkel
Gennaro betreibt.
Das gesamte,
mehrstöckige Haus gehört ihm und eines der Zimmer im zweiten Stock ist mein
Zuhause.
Ich ziehe den
Karren durch eine Tür im Hinterhof und parke ihn ordentlich in dem kleinen
Verschlag unter dem ersten Treppenaufstieg, dann gehe ich nach oben zu meinem
nach meinen Wünschen eingerichteten Apartment. Es hat sogar ein eigenes Bad,
für dessen Reinigung ich genauso selbst verantwortlich bin wie für mein
geräumiges Zimmer. Eine Küchenzeile wollte ich darin nicht, weil ich so oder so
immer zum Essen nach unten gehen kann.
Nach einer
gründlichen Dusche, mit der ich den Schweiß des Tages von mir wasche, gehe ich
ins Erdgeschoss, das im Hinterhaus die große Küche und vorn auf zwei Etagen das
Lokal beherbergt.
Kaum bin ich durch
die Tür, die auf der Lokalseite die Aufschrift ‚Privato‘ mit einem
internationalen ‚Durchgang verboten‘-Schild trägt, gegangen, schon ruft meine Nonna
mich mit überschwänglich-mütterlichem Ton an den Familientisch nahe der Küche
in einer Nische. Die Familie sitzt keineswegs vom restlichen Publikum des
Lokals getrennt, sondern mehr oder weniger auf dem Präsentierteller.
Mich hat das nie
gestört, dabei konnte ich an bestimmten Abenden nämlich durchaus den einen oder
anderen Augenschmaus von Touristen entdecken.
Wie heißt es so
schön? Das Auge isst mit, in diesem Fall gern in zweierlei Hinsicht.
Meine Großeltern,
mein Onkel und zwei Tanten, die allesamt in Italien geblieben sind, treffen
sich nahezu täglich hier im Ristorante. Nicht zu vergessen einige
Cousins und Cousinen …
Alle Mitglieder
meiner Familie, die sich in Firenze aufhalten, sind abends hier, um gemeinsam
zu essen.
Ich umarme meine
Nonna genauso wie sie mich, dann nehme ich lächelnd Abstand und lasse mich auf
meinem Platz am Tisch nieder.
Einer meiner Neffen
rennt mit einem Spiel-Flugzeug aus Schaumstoff an mir vorbei und macht ein sehr
feucht klingendes Brummgeräusch dazu.
Ich kichere.
„Vinnie, ich
glaube, dein Flugzeug muss in die Waschstraße. Deine Hände übrigens auch“, sage
ich amüsiert.
Sofort erklärt mir
der Fünfjährige, dass ihm meine Idee mit dem Flugzeug-waschen ausgesprochen gut
gefällt und startet durch, um zum privaten Waschraum der Familie zu rennen.
„Wenn du ihm schon
so einen Unsinn erzählst, geh gefälligst mit und sorge dafür, dass ich ihn
nicht noch mal komplett umziehen muss“, meckert meine Cousine gutmütig und
scheucht mich mit wedelnden Handbewegungen hinter Vinnie her. „Los! Los!“
Lachend stehe ich
auf und gehe dem Jungen nach.
Ich finde ihn am
Waschbecken auf einem kleinen Tritthocker. Das Wasser läuft bereits und das
Flugzeug ist nass, ebenso Vinnies leicht speckige Ärmchen.
„Hey, hey! Das
Flugzeug muss baden, du musst nur die Hände waschen, Knirps“, sage ich und
nehme ihm das Spielzeug ab.
Wir kriegen es hin
und ich liefere meinen Neffen wieder bei seiner Mutter ab.
Vinnie klettert
neben ihr auf seinen Stuhl mit Sitzpolster und ich hocke mich auf meinen
eigenen.
Das Essen ist
gemütlich, laut und fröhlich, was den Touristen an den anderen Tischen sehr zu
gefallen scheint.
Ich vermute, wir
stellen mit unserem ganz normalen Alltag eine Art Attraktion dar …
2 Jannik
Oh Mann, ich gucke
jetzt bestimmt zum zwanzigsten Mal auf die Uhr, da ich den Feierabend herbeisehne.
Hennes, unser
Polier, grinst frech und trompetet von der anderen Hausseite: „’Ne halbe Stunde
noch, Jannik, dann kannst du deine Karre packen und Organspender spielen
gehen!“
„Du kannst so ein
Arsch sein!“, brülle ich zurück.
Seit einem schweren
Autounfall vor ein paar Jahren hat der Gute einen echt schrägen Humor
entwickelt, nicht nur in Bezug auf seine eigene Person.
Kann man ihm aber
auch nicht verdenken.
Lange Zeit stand
sein Überleben auf Messers Schneide. Aber Hennes ist ein Kämpfer. Allerdings
ist er seitdem auf einem Auge blind und sein rechtes Bein ist im Knie sehr steif.
Unser Bauleiter und
die rechte Hand des Chefs, Siegfried Piepenbrink, hat sich sehr dafür
eingesetzt, dass Hennes trotz seiner Handicaps in der Firma bleiben konnte.
Morgen früh um acht
Uhr treffe ich mich mit fünf Freunden auf dem Hof der Dachdeckerfirma Holtkamp.
Von dort starten wir mit unseren Motorrädern in Richtung Vada an der
Mittelmeerküste.
Kilian Denning,
einer der Firmeninhaber und Chef meines Freundes Berthold Knopp, von allen nur
Bertie genannt, hat darauf bestanden, uns mit einem anständigen Frühstück zu
verabschieden.
Wir haben diese
Tour seit über einem Jahr geplant und freuen uns wie doof, dass es endlich los
geht.
Mit dabei sind
neben meiner Wenigkeit und Bertie, noch Gernot Evens, Marc Hartmann und Sven
Schäfer, alle drei Arbeitskollegen von mir. Dazu kommt noch Jörg Kerner, seines
Zeichens Kripobeamter in Weidenhaus.
Endlich ist es
vierzehn Uhr und ich verabschiede mich von den Kollegen unserer aktuellen
Baustelle.
„Fahrt bloß
vorsichtig, Jannik. Ich will euch alle in drei Wochen wieder heile begrüßen
können“, gibt mir Hennes nach einer fetten Umarmung mit auf den Weg.
„Machen wir,
versprochen. Aber du weißt selbst, wie viele Idioten auf den Straßen unterwegs
sind.“
„Leider wahr. Ruf
an, sobald ihr angekommen seid. Die Clique hat mich dazu verdonnert, im Chat
Bescheid zu sagen.“
„Alles klar, aber
jetzt muss ich los. Die Karre packt sich nicht von allein und ich muss vorher
noch einkaufen. Wir wollen unterwegs ja nicht verhungern.“
Ich setze meinen
Helm auf und schwinge mich auf meinen ganzen Stolz. Eine mattschwarze Goldwing,
ausgestattet mit allen Schikanen der neuesten Technik.
~*~
Kurz vor acht biege
ich in die Hofeinfahrt von Holtkamp Bedachungen und wundere mich über die
unzähligen geparkten Autos.
Sobald ich den Helm
absetze und auf dem Bock deponiere, höre ich, dass hier schon am frühen Morgen
der Bär steppt.
Adriano Celentanos Azzurro schallt zu mir herüber und viele
Kehlen unterstützen den Song mit mehr oder weniger erträglichen Stimmen.
Von wegen – ruhiges
Frühstück vor dem Aufbruch.
Sobald ich mich der
Wiese hinter dem neuen Bürokomplex nähere, sehe ich die halbe Clique
versammelt, samt der kompletten Familien von Kilian und Wolf.
„Was ist denn hier
los?!“, brülle ich gegen die Gesangsdarbietung an.
„Na, wir lassen
euch doch nicht in Urlaub fahren, ohne uns anständig zu verabschieden“,
erwidert Kilian, nachdem er mir die Hand gereicht hat.
Günter Holtkamp
taucht neben mir auf und stupst mir den Ellenbogen in die Rippen. „Könnt ihr
auf dem Rückweg nicht über Maranello fahren und mir einen Ferrari mitbringen?“,
fragt er schelmisch grinsend.
„Aber sicher,
Günter, und anschließend lassen wir uns von deiner Frau erschießen“, gebe ich
zurück und lache.
„Hallo Jannik,
erzählt mein Onkel wieder dummes Zeug?“ Wolf, Kilians Ehemann, reicht mir
ebenfalls die Hand.
„Ach, nur ein
Scherz am Rande. Aber jetzt gehe ich das Frühstücksbuffet plündern, ehe die
verfressene Bande alles wegfuttert.“
Es ist fast halb
zehn, ehe wir endlich aufbrechen können.
Wir winken allen
noch mal zu, dann düsen wir los in Richtung Autobahn.
Vor uns liegen fast
1.300 Kilometer, ehe wir den Campingplatz in Vada erreichen. Dort wartet ein
Holzbungalow mit allem erdenklichen Luxus auf uns.
Nach ungefähr acht
Stunden Fahrt erreichen wir ohne große Staus unser Etappenziel in Andermatt.
Nach einer Übernachtung
im Hotel, geht es am nächsten Morgen weiter zur Großglockner Hochalpenstraße.
Die lässt man sich
als Motorradfreak natürlich nicht entgehen, wenn man schon mal in der Gegend
ist.
Durch die tollen
Aussichtspunkte an der Hochalpenstraße haben wir eine Menge Zeit verloren und
treffen erst gegen sechzehn Uhr auf dem Campingplatz ein.
Nachdem wir uns in
dem traumhaft schönen Bungalow eingerichtet haben, kümmern sich Jörg und Bertie
um das Abendessen. Heute wird gegrillt, dazu gibt es frischen Salat und jede
Menge Bier.
Ich schicke rasch
eine Nachricht an Hennes, damit er unsere Freunde unterrichten kann, dass wir
gut angekommen sind. Für morgen kündige ich ein längeres Telefonat an, um ihm
mehr über die aufregende Fahrt über den Großglockner zu berichten.
Anschließend helfe
ich Bertie bei der Schnippelei für die Riesenportion Salat.
[Leseprobe] Maskerade mit Folgen
Kapitel 1 Dior
Ich. Bin. Verzweifelt.
Anders lässt es sich jedenfalls kaum erklären, dass ich
genau heute genau hier bin.
Mit einem stummen Seufzen sehe ich mich um und zupfe erneut
absichernd an der Augenmaske, die ich zu meinem Kostüm trage.
Wahlweise würde ich auch gern meine nackten, gut trainierten
Oberarme verdecken …
So ein Quatsch!
Ich renne doch nicht dreimal in der Woche ins Fitnessstudio
und gehe an den anderen vier Tagen schwimmen, um jetzt meinen hart erarbeiteten
Körper zu verstecken!
Dennoch frage ich mich zum wiederholten Male, wieso es mir
nach dem Gespräch mit meinem besten Freund Peer als gute Idee erscheinen
konnte, heute auszugehen. Hierher!
Ich bin nun Popeye … Nun ja, ein Seemann vermutlich
eher.
Weiße Bügelfaltenhose, mit zwei Reihen Knöpfen auf dem Bund,
ein hautenges, ärmelloses Shirt mit blau-weißen Querstreifen, dazu ein Halstuch
im selben Dunkelblau, das sich auch im Shirt zeigt.
Ebenso blaue Segelschuhe mit weißer Sohle komplettieren mein
Outfit, sehe ich vom weißen Matrosenhütchen und der Maske ab.
Laut meinem besten Freund, der heute mit seinem Verlobten zu
einem Valentins-Dinner im La dolce Sofia
verabredet ist, sitzt die Hose an mir schlicht perfekt, und bringt besonders
meinen Arsch gut zur Geltung.
Jenen halte ich deshalb vorzugsweise außer Sichtweite und
drücke mich lieber weiterhin an der Wand des Ballsaals herum, in den es mich heute
verschlagen hat.
Ein Gay-Anti-Valentins-Maskenball.
Quasi prädestiniert, um zu einem All you can fuck für die schwule Gesellschaft in und um Weidenhaus
zu werden …
Seit Monaten habe ich die Veranstaltungswerbung auf diversen
Plattformen im Netz und auf Plakaten im Ort gesehen.
Es herrscht Kostümzwang, der Beziehungsstatus muss absolut
zwingend Single sein, zudem trägt ausnahmslos jeder hier eine Maske, die
lediglich die Augenpartie verdeckt.
Inkognito-Ficken also.
Ich seufze erneut.
Mein Outfit verdeckt immerhin noch mehr als die Hälfte
meines trainierten Körpers, was ich von etlichen anderen Anwesenden nicht
behaupten kann.
Viele sind wohl wirklich hier, um sich auf dem bunten Büffet
der Eitelkeiten als williges Fickfleisch anzubieten.
Müsste mir eigentlich gefallen, aber bislang konnte ich
schlicht niemanden entdecken, der meiner Fantasie genug Spielraum geboten
hätte, um ihn anzusprechen.
Klar will ich ausnutzen, dass mich niemand erkennt, dass ich
ausnahmsweise einmal machen kann, was ich will, ohne über die Konsequenzen
nachdenken zu müssen, aber auch dabei habe ich gewisse Ansprüche.
Ein Halbnackter erfüllt sie per se nicht, weil mein Kopfkino
dann nicht arbeiten muss.
Ich stehe eben auf Männer, denen ich beim Sex nicht den Mund
verbieten muss, weil die gequirlte Scheiße, die sie sonst ablassen, mich total
abtörnen würde.
Stattdessen mag ich Köpfchen und Humor.
Ja, sogar bei One-Night-Stands.
Die Verkleidung kommt mir also wirklich gelegen, schließlich
kann ich mich in meinem Job nicht irgendwo verschanzen, sondern stehe täglich vielen,
vielen Menschen gegenüber.
Egal, jetzt ist Spaß befohlen, und genau den will ich, wenn
ich ganz-ganz ehrlich zu mir selbst bin, auch wirklich haben.
Gut.
Von der Wand weg an die Balustrade. Runtergucken.
Prima Idee – jeder Arsch, der vorbeigeht, fühlt sich also ab
jetzt dazu bemüßigt, mir mindestens auf den Hintern zu klatschen oder wahlweise
fest reinzugreifen.
Die ersten Kandidaten wehre ich noch ab, dann ziehe ich vor,
es zu ignorieren.
Vielleicht entdecke ich ja ein besonders cooles Kostüm und
finde den darin befindlichen Kerl brauchbar?
Was sagt die Wahl einer Verkleidung wohl über denjenigen
aus?
Während ich noch darüber grübele, wird mir bewusst, dass sie
gar nichts aussagt. Schließlich bin ich kein verkappter Seemann!
Während ich über die wogende Masse unter mir blicke,
erscheint es mir plötzlich irrsinnig schlau, erst mal etwas zu trinken.
Möglicherweise lässt mein Anspruch sich dadurch verklären?
Kapitel 2 Goran
Wer hat mir eigentlich ins Hirn geschissen, mich auf diesen
Schwachsinn einzulassen?
Valentinstag – sprich – Tag der Verliebten. Nichts weiter,
als eine Erfindung der Konsumgüterindustrie, um den Leuten das Geld aus der
Tasche zu ziehen.
Ich weigere mich schon mein ganzes Erwachsenenleben lang,
diesen Blödsinn mitzumachen. Warum habe ich mich bloß dazu überreden lassen,
diese Anti-Veranstaltung zu besuchen?
Im Grunde dient sie doch dem gleichen Zweck. Horrende Eintrittspreise, noch
teurere Getränke. Da man als Single auftreten muss, gaukeln die Veranstalter den
Besuchern doch nichts anderes vor, als könnten sie hier den Mann für ihre
einsamen Herzen finden.
So ein Bullshit!
Auf dieser Party findet man sicher nicht den Partner für ein
langes, glückliches Leben. Außer willigem Fickfleisch wird einem nichts
geboten.
Absolut nicht meine Welt. Ich stehe eher auf Typen, mit
denen ich ein sinnvolles Gespräch führen kann. Intelligenz törnt mich tausendmal
mehr an als ein ansehnlicher, halbnackter Körper.
Ben, mein bis vor einer halben Stunde bester Freund, hat
mich seit Wochen bearbeitet, ihn zu begleiten. Es wäre zu meinem Besten. Ich
müsste mal wieder raus, tanzen, Spaß haben.
Worin soll dieser Spaß bestehen?
Es einem notgeilen Hohlkopf zu besorgen?
Wenn ich mich in diesem Schuppen umschaue, sehe ich nichts, außer
nackter Haut und Männern, die albern durch die Gegend hüpfen, alles anbaggern
und angrabschen, was nicht bei drei auf dem Baum ist.
Ich bin froh, mich für das Zorro-Kostüm entschieden zu haben.
Außer einem winzigen Stück meiner Brust, ist alles an mir bedeckt. Sogar meine
Hände stecken in Lederhandschuhen mit langen Stulpen. Nervig ist allerdings der
Gaucho-Hut. Er ist ziemlich schwer und obwohl ich noch nicht lange hier bin,
staut sich die Hitze darunter. Meine Haare dürften inzwischen klatschnass am
Kopf anliegen, was mich daran hindert, ihn abzunehmen.
Ich rücke die breite Ledermaske zurecht, die meine
Augenpartie verdeckt, allerdings auch mein Sichtfeld stark einschränkt.
Mir geht grade alles auf den Sack! Ständig rempelt mich
jemand an, fremde Hände nutzen das Gedränge, mich an den unmöglichsten
Körperstellen zu berühren.
Sobald ich Ben in diesem Trubel wiederfinde, werde ich ihn
schlachten. Der Schweinehund hat sich klammheimlich verpisst, kaum dass wir den
Saal betreten hatten. So viel zu seinem Versprechen, wir würden uns gemeinsam
amüsieren.
Wären die Karten für diese Horrorveranstaltung nicht so teuer
gewesen, würde ich mich auf dem Absatz umdrehen und verschwinden, aber dazu bin
ich einfach zu geizig. Von daher marschiere ich jetzt in Richtung der meinem
Standort am nächsten gelegenen Bar und bestelle mir Wodka-Cola. Immerhin ist
das erste Getränk im Eintrittspreis enthalten.
Mit dem Glas in der rechten Hand lehne ich seitlich an der
Theke und mustere mit abfälligem Blick das Treiben um mich herum.
„Hast du Lust, mit der Peitsche, die an deinem Gürtel
baumelt, heute zu spielen?“, säuselt mir jemand ins Ohr und greift dabei fest in
meinen Arsch.
Betont langsam wende ich mich ganz um. Neben mir steht ein
halbes Hemd, gehüllt in eine Toga, die seinen Intimbereich nur notdürftig
bedeckt.
„Wenn du mich noch mal angrabschst, wirst du es schneller
erfahren als dir lieb ist!“, raunze ich ihn mit giftigem Blick an.
„Arschloch!“, zischt er und rauscht hoheitsvoll von dannen.
Maskerade mit Folgen
Klappentext:
Ein Gay-Anti-Valentins-Maskenball, was kann da schon groß passieren?
Dior hat sich von seinem besten Freund und dessen Verlobtem dazu überreden lassen, sich ein wenig zwanglosen Spaß zu suchen. Da muss dieser Ball doch genau das Richtige sein, oder nicht?
Goran begleitet sehr unwillig seinen besten Freund Ben zu einem schwulen Maskenball und ärgert sich ab Minute eins darüber, nicht einfach ‚nein‘ gesagt zu haben.
Eine kleine Geschichte aus Weidenhaus.
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Freitag, 12. Mai 2023
Auf Todesfälle folgen Lichtblicke
[Leseprobe] Auf Todesfälle folgen Lichtblicke
1 Sascha
Das monotone Geräusch des Zuges lenkt mich nicht ab. Ich
hole die Karte noch einmal aus meiner Umhängetasche und lese sie.
Der schwarze Rand des Umschlags, das Bild auf der Außenseite
der Karte – beides verschafft mir sofort wieder eine Gänsehaut.
Dominik, mein bester Freund, ist gestorben.
Ein Unfall auf der Autobahn. Seine Frau Vivien hat noch am
Unfalltag angerufen und mich informiert.
Seinen Namen mit dem Geburts- und Todesdatum zu lesen, macht
mich jedes Mal aufs Neue fassungslos und ich schüttle auch jetzt noch ungläubig
den Kopf.
Wie schnell so etwas passieren kann …
Dominik war so alt wie ich, gerade mal fünfunddreißig.
Ein Schauder durchläuft mich.
So aus dem Leben gerissen zu werden, das ist schlicht
grausam.
Ich seufze tief und sinke zurück, lege den Kopf gegen die
Rückenlehne des Sitzes und schließe kurz die Augen.
Dominik und ich hatten für das nächste Wochenende, den
ersten Advent, eine Verabredung. Zuletzt gesehen haben wir uns im vergangenen
Monat.
Irgendwie haben wir es immer hinbekommen, dass wir uns
einmal monatlich treffen und zusammen etwas unternehmen.
Ich erinnere mich an unser letztes Treffen.
Wir waren zusammen beim Angeln, haben die Ruhe und den
Frieden noch vor Sonnenaufgang an einem Gewässer seines Angelsportvereins
genossen.
Heißer Kaffee, einträchtige Stille, sogar ein einigermaßen
guter Fang, den wir abends gemeinsam mit Vivien zubereitet und verspeist haben.
Es war ein tolles Wochenende, das letzte richtig sonnige im
Oktober!
Wie immer habe ich bei ihnen im Gästezimmer übernachtet,
obwohl meine Eltern in derselben Stadt leben, und darum hat mich Vivien auch für
diesen Besuch gebeten.
Noch ein Seufzen. Ein Blick auf die Uhr.
Es dauert noch drei Stunden, bis ich ankomme.
Ich frage mich, wann ich zuletzt unter der Woche hier
raufgefahren bin ...
Normalerweise nehme ich meinen Wagen, das geht irgendwie
immer noch schneller, aber nach dieser schockierenden Nachricht und in meinem
aktuellen Zustand fühlte ich mich einfach nicht danach, selbst zu fahren.
Die Anzeige am Ende des riesigen Waggons verkündet, dass der
nächste Halt in zehn Minuten ansteht.
Es ist so nervtötend, hier zu sitzen und dieser Beerdigung
entgegenzufahren!
Immer wieder schießen mir die zahlreichen schönen,
verrückten und ernsten Momente, die ich mit Dominik und Vivien teile, durch den
Kopf.
Vor zwei Jahren sah alles so aus, als würden sie endlich das
langersehnte Kind bekommen, aber im achten Monat hat Vivien es verloren. Sie
musste es auf natürlichem Weg zur Welt bringen, obwohl es bereits tot war.
Sie waren am Boden zerstört und ich habe versucht, ihnen zur
Seite zu stehen.
Im Grunde sind beide meine besten Freunde. Der einzige
Grund, wieso wir uns nicht deutlich öfter gesehen haben, ist, dass ich mehr als
fünfhundert Kilometer weit weg lebe und arbeite.
Ich frage mich, wie ich Vivien trösten soll, wie ich ihr die
Stärke geben soll, die sie ganz sicher noch deutlich mehr braucht als ich.
Mein Inneres ist abwechselnd taub und unendlich traurig. Ich
will heulen, schreien, auf irgendetwas einprügeln, weil es so schrecklich
unfair ist, dass Dominik nicht mehr da ist. Dass er nie wieder da sein wird.
Ich vermisse ihn schon jetzt.
Der Zug hält, Passagiere wuseln aus den Waggons, andere
hinein.
Ich sehe hin, ohne wirklich etwas zu erkennen.
Ein Blinzeln, dann starre ich einen der gerade mit einem
Trolley einsteigenden Männer an.
Dunkles Haar, ein markantes Kinn, er dreht den Kopf und
sieht noch einmal außen am Zug entlang – unmöglich!
Ich sehe Gespenster, im wahrsten Wortsinne.
Der Mann, der mittlerweile in das Monstrum aus Stahl und
Streben eingestiegen sein muss, sah aus wie Dominik!
Meine Handflächen werden feucht, ich wische sie an meinen
Jeans ab, räume die Karte mitsamt Umschlag wieder in meine Tasche und trinke
einen Schluck von meiner Cola.
Der Zug fährt wieder an, wieso zieht sich die Fahrt so?!
Meine Halluzination von eben vergesse ich besser wieder.
Meine Nerven sind so angespannt, dass ich nicht einmal meinen Augen traue.
Vielleicht habe ich mir das alles nur eingebildet, weil ich Dominik
so vermisse und schlicht nicht will, dass er tot ist?
2 Fabian
Vor zwei Monaten musste ich meine Mutter beerdigen und nun
bin ich auf dem Weg zu einer weiteren Beisetzung.
Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee ist,
unangemeldet dort aufzutauchen. Aber was hätte ich machen sollen?
Anrufen wollte ich nicht. Ich weiß selbst, dass man
innerhalb kurzer Zeit so vieles erledigen und organisieren muss, da hat man
keinen Kopf für andere Dinge.
Ein Brief war mir zu unsicher, da die Post nicht unbedingt
zuverlässig ist. Mit etwas Pech wäre der erst nach mir eingetroffen.
Entgegen dem mulmigen Gefühl in meinem Magen, habe ich
trotzdem beschlossen, diese Reise anzutreten. Mein inneres Bedürfnis, Dominik
die letzte Ehre zu erweisen, treibt mich dazu.
Kaum habe ich meine Reisetasche verstaut und meinen Platz
eingenommen, rattert der Zug los. Knappe drei Stunden Fahrt liegen vor mir – viel
zu viel Zeit zum Grübeln.
Um mich davon abzuhalten, rufe ich am Handy die Playlist mit
meinen Lieblingssongs auf und fummle mir die In-Ears in die Ohren.
Für eine halbe Stunde funktioniert das ganz gut, aber dann
kehren die bedrückenden Gedanken mit Macht zurück.
Ein paar Tage vor ihrem Tod hat meine Mutter mir eine
Geschichte erzählt, an der ich ganz schön zu knabbern hatte.
Allerdings konnte ich mich nicht sofort damit auseinandersetzen,
da ich mich intensiv um meinen Vater kümmern musste. Der Verlust seiner
geliebten Frau hat ihn völlig umgehauen.
Erst Anfang November habe ich endlich die nötige Ruhe
gefunden, mich schriftlich mit Dominik in Verbindung zu setzen. Er hat sich
ziemlich schnell per Mail gemeldet und wir haben uns fast jeden Tag geschrieben.
Ein persönliches Treffen hatten wir für die Tage zwischen Weihnachten und
Neujahr ins Auge gefasst.
Ein völlig irrationales Gefühl trieb mich nach zwei Tagen
Funkstille dazu, seinen Namen zu googeln. Wie vom Donner gerührt las ich den
Bericht über einen schweren Unfall auf der Autobahn in der Nähe seines
Wohnortes. Der Name des tödlich verunglückten Fahrers wurde nur mit den
Anfangsbuchstaben genannt, aber tief im Innern wusste ich es.
Durch die online abrufbaren Todesanzeigen der örtlichen
Tageszeitung erhielt ich Gewissheit.
Dominik ist tot!
Seit dem Tod meiner Mutter sehe ich jeden Tag, wie sehr mein
Vater leidet. Mir geht es auch nicht viel besser, aber durch ihre lange
Krankheit hatten wir Zeit, uns auf das Schlimmste vorzubereiten.
Der Schmerz wird dadurch nicht weniger und es ist auch nicht
leichter zu ertragen, aber einen geliebten Menschen von jetzt auf gleich durch
einen Unfall zu verlieren, muss einem völlig den Boden unter den Füßen wegziehen.
Für Vivien, Dominiks Frau, muss es doppelt schlimm sein. Wie
ich weiß, hatten die beiden keine Kinder und sie bleibt völlig allein zurück.
Sicher, sie hat ihre Eltern und Schwiegereltern, die ihr zur
Seite stehen, aber durch Kinder bleibt ein Teil des geliebten Menschen erhalten.
Dominik muss ein sehr aktiver und beliebter Mensch gewesen
sein.
Außer der Todesanzeige der Familie, fand ich noch Nachrufe
etlicher Vereine und einen sehr ergreifenden seiner Mitarbeiter.
Erschreckt zucke ich zusammen, als mir jemand auf die
Schulter tippt.
Vor mir steht ein grauhaariger Mittfünfziger in der Dienstkleidung
des Bahnbetreibers. Er redet auf mich ein, aber da meine Musik so laut ist, verstehe
ich kein Wort.
Ich lächle ihn entschuldigend an und pflücke mir die
Kopfhörer aus den Ohren.
„Na, junger Mann, hören Sie mich jetzt?“, fragt er mit
amüsiertem Unterton.
„Vielen Dank für den jungen Mann“, gebe ich zurück und
grinse ihn kurz an, ehe ich die Fahrkarte aus meiner Umhängetasche krame.
Nachdem er sie abgestempelt hat, reicht er sie mir zurück
und gibt mir noch einen gutgemeinten Rat: „Machen Sie die Musik lieber nicht so
laut. Den Schaden, den Sie sich damit zufügen, bemerken Sie erst, wenn Sie in
mein Alter kommen.“
Er sieht mich vielsagend an, ehe er den Kopf dreht und mit
dem Finger auf das Hörgerät in seinem Ohr zeigt.
„Zu viele Rockkonzerte und zu laut eingestellte Kopfhörer“,
klärt er mich auf.
„Ich werde versuchen, es mir zu merken. Aber manchmal
braucht man das einfach, um die Welt auszusperren“, erwidere ich.
„Wohl wahr. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.“ Damit
wendet er sich den Fahrgästen auf der gegenüberliegenden Sitzreihe zu.
Ich nehme mir seinen Rat zu Herzen, regle die Lautstärke
etwas herunter und sehe aus dem Fenster.
Eine ziemlich trostlose Landschaft fliegt an mir vorbei. Kahle
Bäume und Sträucher, braune, brach liegende Felder, selbst die Wiesen sind
farblos. Aber im November darf man auch nichts anderes erwarten. Jetzt fehlt
nur noch, dass es anfängt zu regnen, dann ist meine Stimmung absolut auf dem
Nullpunkt.
Nach weiteren zwei Stunden, in denen ich immer wieder eindöse,
erreiche ich endlich mein Ziel.
Auf dem Bahnsteig weht ein unangenehmer Wind. Ehe ich die
Treppe in Angriff nehme, die mich in das eigentliche Bahnhofsgebäude bringen
wird, schließe ich den Reißverschluss meiner Steppjacke und wickle mir den
langen Schal mehrfach um den Hals.
Der Taxistand ist schnell gefunden und zu meiner großen Erleichterung
ergattere ich sofort ein freies Fahrzeug.
Mein Hotel liegt mitten in der City, wenn man sie bei diesem
kleinen, malerischen Ort überhaupt so bezeichnen kann.
Es befindet sich in einem alten Gutshaus, wie man nicht nur
dem Baustil, sondern auch den vielen antiken, aber sehr gepflegten Einrichtungsgegenständen
der Empfangshalle deutlich entnehmen kann.
Der Check-in ist schnell erledigt, da die Rezeption mit der
neuesten Technik ausgerüstet ist.
Mein Zimmer im zweiten Stock des Gebäudes betrete ich mit
einer Key-Card und bin angenehm überrascht. Obwohl ein paar alte Gemälde an den
Wänden auf die Vergangenheit dieses Landstriches hinweisen, sind die Möbel
absolut modern. Ein Blick ins Bad zeigt mir, dass auch hier alles den neuesten
Anforderungen entspricht.
Nachdem ich meinen Trolley ausgepackt und die Kleidung für
die Beisetzung ordentlich auf Bügel gehängt habe, hocke ich unschlüssig auf der
Bettkante.
War es wirklich eine gute Idee hierher zu kommen?
Morgen einfach auf dem Friedhof aufzutauchen, wäre wohl
ziemlich pietätlos. Ich könnte mir vorstellen, dass ich damit einigen
Anwesenden einen gehörigen Schock versetzen würde.
Die Frage ist nur, wie Vivien es verkraftet, wenn ich heute
noch vor ihrer Haustür stehe?
3 Sascha
„Hallo Sascha, komm herein!“ Vivien sieht schrecklich aus,
was meinen Magen sofort noch mehr verknoten will.
Rotgeweinte Augen, Nase und Wangen sehen geschwollen aus,
vermutlich weint sie seit dem Unfall ununterbrochen …
Mein Koffer steht neben mir, seitdem ich an der Tür des
Einfamilienhauses geklingelt habe, und ich nutze meine freien Hände, um sie
fest an mich zu ziehen.
„Es tut mir so leid, Viv!“, murmele ich und drücke sie noch
einmal fester, bevor ich sie sanft wieder auf Abstand bringe.
Sie lächelt unter Tränen – Vivien war stets eine enorm
starke Frau, wie sonst hätte sie damals die eingeleitete Geburt ihres toten
Babys aushalten sollen?
Für die Fassung, die sie wahrt, als sie zurück tritt und
mich mit einer Geste hineinbittet, bewundere ich sie sehr.
Ich nehme den Koffer auf und lasse Gepäck und Jacke in der
Diele an der Garderobe, bevor ich meiner Freundin in die Küche folge.
Es duftet nach Kaffee und Viviens Mutter Ellen steht von der
großen Essecke auf, die eine Hälfte der riesigen Küche beherrscht.
Sie eilt auf mich zu und ich bemühe mich, ihr
entgegenzukommen.
„Ellen!“, sage ich inbrünstig und umfange sie.
„Sascha! Gut, dass du da bist!“, bringt sie hervor und
versucht wie Vivien eben, mich anzulächeln.
„Bleibst du hier?“, fragt sie hoffnungsvoll. „Ich meine,
hier bei Vivien?“
Ich nicke sofort. „Meine Eltern wissen Bescheid, dass ich in
der Stadt bin, und sie verstehen, wieso ich bei Vivien sein will. Sie werden
morgen zur Beisetzung kommen.“
Ellen nickt verständig.
Vivien stellt mir einen Kaffee auf den Tisch und irgendwie ist
niemand auf die Idee gekommen, sich an den Stammplatz meines besten Freundes zu
setzen.
Mein Blick bleibt für einen endlosen Moment daran hängen,
und ich reiße mich erst davon los, als Vivien mich anspricht.
„Wie war deine Reise, Sascha? Willst du dich nicht erst mal
einrichten und ankommen?“
Ein sehr liebenswertes Angebot, aber ich kann nicht.
„Ich war die vergangenen vier Stunden allein im Zug, jetzt
brauche ich Menschen um mich herum, die wissen, wie es in mir aussieht. Das
klingt voll furchtbar, aber … Da draußen geht alles seinen gewohnten Gang
und schon den Gedanken daran ertrage ich nicht, während ich weiß, dass nichts
jemals wieder so sein wird, wie es war.“
„Das ist immer so, Sascha. Man wünscht es sich anders, aber
die Welt dreht sich einfach weiter.“ Ellen seufzt tief.
„Mama fährt gleich nach Hause, sie war nur hier, weil sie
mich nicht allein lassen wollte. Jetzt bist du ja da“, erklärt Vivien und ich
nicke.
„Oh, okay. Kommt ihr morgen erst her oder treffen wir uns am
Friedhof?“, frage ich, auch wenn ich es nicht wirklich wissen will.
„Wir kommen vorher her, genau wie Barbara und Lars“, sagt
Ellen, als sie mit ihrer dicken Jacke aus der Diele wieder in die Küche tritt.
Ah, wenn Dominiks Eltern Barbara und Lars ebenfalls
herkommen, wird sich morgen zeigen, wer mit wem fährt und wie viele Autos wir
brauchen.
Wir verabschieden Viviens Mutter mit Umarmungen und sie
schärft mir ein, ihre Tochter nicht aus den Augen zu lassen, dann verschwindet
sie und meine beste Freundin und ich kehren in die Küche zurück.
Sie atmet erleichtert auf, als ihre Mutter weg ist.
Vermutlich hatte Vivien noch keine freie Minute, um mal ganz für sich zu
sein …
„Hast du Hunger?“, fragt sie und mustert mich durchdringend.
„Nein, momentan nicht, aber ich sollte meine Sachen doch schnell
auspacken gehen, damit der Anzug und das Hemd nicht so zerknittert sind.“
Sie nickt. „Mach das, Sascha. Soll ich für heute Abend was
kochen oder wollen wir bestellen?“
Ich schürze die Lippen. „Mir würden Brote reichen, Viv. Lass
uns keinen Stress machen, ja? Alles ganz in Ruhe.“
„Danke, dass du da bist“, murmelt sie und ich ziehe sie,
bevor ich aus dem Raum gehe, noch einmal fest an mich.
„Du und Domi, ihr seid die wichtigsten Menschen für mich.
Das wird sich niemals ändern“, erwidere ich leise.
„Gut, dann hopp nach oben mit dir!“, kommandiert sie und ich
salutiere, weil das Alberne uns hilft, mit der Situation umzugehen.
„Zu Befehl!“, antworte ich und schnappe mir meinen Koffer
und die Umhängetasche, um im Obergeschoss das Gästezimmer aufzusuchen.
Es hat ein eigenes kleines Bad – ursprünglich sollte dieser
Raum das zweite Kinderzimmer werden, das genau wie das erste niemals als
solches genutzt wurde …
Daran dürfte sich jetzt auch nichts mehr ändern. Noch ein
Gedanke, der mich unendlich traurig macht.
Ich weiß, wie sehr Viv und Domi sich Kinder gewünscht haben.
Sobald meine Sachen im Schrank untergebracht sind, ziehe ich
mich etwas legerer an und gehe wieder hinunter.
Es klingelt an der Tür. Der sanfte mehrstimmige Gong schallt
durch das Haus, als ich gerade die Diele betrete, weshalb ich abbiege und in
Richtung Küche rufe: „Ich gehe schon!“
Ich greife nach der Klinke und ziehe das Türblatt nach
innen, sehe mich einen Mann gegenüber, den ich seit dreiunddreißig Jahren
kenne!
„Domi?!“, würge ich hervor, weil mir die Luft wegbleibt.
„Nein, ich heiße Fabian Wolters. Dominik war mein
Zwillingsbruder.“
Ich höre, was er sagt, und seine Stimme ist auch ganz anders
als Dominiks, aber …
Stirnrunzelnd mustere ich ihn.
Zwillingsbruder.
Dominik soll einen Zwillingsbruder gehabt haben?!
„Ich bin seit über dreißig Jahren Dominiks bester Freund,
wenn er einen Zwillingsbruder hätte, wüsste ich das wohl!“, zische ich mit
einem ungläubigen Trotz, den ich mir angesichts seines Aussehens schon nicht
leisten kann.
Scheiße, wie kann das sein?
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen so einen Schreck bereite,
aber ich würde gerne kurz mit Frau Schäfer sprechen.“
Schreck ist gut!
Ich schüttle fassungslos den Kopf und sende damit prompt das
falsche Signal. Bevor ich antworten oder sonst wie reagieren kann, will er
schon wieder etwas sagen.
Meine Hand hebt sich beschwichtigend. „Ihnen ist schon klar,
dass Ihr Anblick Frau Schäfer unendlich wehtun wird, oder?“
Ihn jetzt einfach so zu Vivien gehen zu lassen, widerstrebt
mir. Ich muss sie beschützen, auch vor erneutem Schmerz!
„Ja, das weiß ich, aber ich wollte morgen nicht einfach auf
dem Friedhof erscheinen.“
Ich überdenke seine Logik kurz und finde es erstaunlich
umsichtig, dass er so rücksichtsvoll ist. Zögerlich nicke ich. „Ich werde Vivien
holen, sie aber vorwarnen. Und ich werde bei Ihrem Gespräch mit ihr dabei
bleiben.“
Zusammenzuckend höre ich Vivien hinter mir. „Was ist denn los,
Sascha?“, fragt sie und als ich mich zu ihr umdrehe, bleibt sie wie angewurzelt
stehen.
„Oh, mein Gott! Fabian!“, schreit sie und schlägt beide
Hände vor ihren Mund.
So viel zum Thema Vorwarnung …
Aber woher weiß sie, wie der Typ heißt?
Mit wenigen weiteren Schritten steht sie neben mir.
Verwirrt sehe ich zwischen ihnen hin und her.
„Ich habe total vergessen, dich anzurufen!“, bringt sie
heraus, während sie nach seiner Hand greift.
4 Fabian
Diese Situation ist für uns alle grausam.
„Es tut mir leid, Frau Schäfer …“
„Vivien“, unterbricht sie mich.
„Danke“, erwidere ich und ringe mir ein Lächeln ab. „Du hast
im Moment ganz andere Dinge im Kopf und ich habe es ja noch rechtzeitig
herausgefunden. Ich wollte dir eigentlich nur kurz Bescheid sagen, dass ich
morgen auf dem Friedhof sein werde.“
„Magst du reinkommen? Kaffee?“, fragt Vivien und deutet über
ihre schmale Schulter.
„Gute Idee, ich brauche auch noch einen“, sagt der Typ, den Vivien
mit Sascha angesprochen hat.
„Kaffee wäre super, aber ich will mich nicht aufdrängen.“
Sie soll sich schließlich nicht gezwungen fühlen, meinen Anblick länger als
nötig zu ertragen.
„Tust du nicht. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Sascha
unbedingt erfahren möchte, was hier los ist.“ Vivien versucht sich an einem
Lächeln, was allerdings ziemlich misslingt. Beide treten einen Schritt
beiseite, um mir Platz zu machen.
Erleichtert atme ich auf. Mir ist hier draußen verdammt kalt
geworden. Zu allem Übel fängt es auch noch an zu nieseln.
Meine Jacke hänge ich an die Garderobe und folge ihnen in
die Küche.
Sobald ich mich auf eine einladende Geste von Vivien gesetzt
habe, geht sie zur Kaffeemaschine und kommt mit zwei gefüllten Tassen zurück.
Ich nicke und bedanke mich höflich.
„Ich bin übrigens Sascha Reinhardt, der beste Freund von
Dominik und Vivien.“ Er streckt mir die Rechte hin.
„Schön dich kennenzulernen. Meinen Namen kennst du ja
bereits“, erwidere ich und schüttle ihm die Hand.
Als ich nach dem Milchkännchen greife, beobachten mich beide
total gebannt.
Was soll das denn?
Zögernd lasse ich genau vier Tropfen in meine Tasse fallen.
„Wahnsinn“, murmelt Sascha.
Verwirrt blicke ich auf und sehe, dass Vivien Tränen über
die Wangen laufen.
„Nicht wundern, Fabian. Dominik hatte die gleiche
Angewohnheit“, erklärt Sascha mit belegter Stimme.
Das versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Ob mein Bruder
und ich wohl noch mehr Gemeinsamkeiten hatten? Man hört ja immer wieder, dass
eineiige Zwillinge nicht nur vom Äußeren kaum zu unterscheiden sind, sondern
auch von ihrem Verhalten her.
Bisher gibt es lediglich einen, nur für mich offensichtlichen,
Unterschied zwischen ihm und mir. Dominik war eindeutig hetero, was man von mir
nicht behaupten kann.
Sobald ich die ersten Schlucke getrunken habe, kann Sascha
seine Neugier nicht mehr zügeln.
„Sorry, aber … könntest du mir erklären, wo du so
plötzlich herkommst? Ich meine, ich kenne Dominik wirklich seit über dreißig
Jahren, aber …“ Er bricht mit einem Schulterzucken ab.
„Ich liefere dir mal die Kurzform, sonst sitzen wir
wahrscheinlich bis Mitternacht hier“, sage ich und lächle leicht, ehe ich
fortfahre. „Barbara und meine Mutter Angelika lagen zur selben Zeit auf der
Entbindungsstation, und während Mamas Sohn tot geboren wurde, hat Barbara
Zwillinge zur Welt gebracht. Die beiden haben einen Plan ausgeheckt, bei dem
jede von ihnen ein Kind versorgen würde. Barbara muss zu dem Zeitpunkt
alleinerziehend und recht jung gewesen sein. Angelika und mein Vater Dieter
waren überglücklich und irgendwie schienen alle von dem Deal zu profitieren.
Ich wohl auch, wenn ich bedenke, wie schön mein Leben bislang war. Ich weiß von
der ganzen Sache erst seit etwa zwei Monaten. Mama hat es mir kurz vor ihrem
Tod erzählt.“
Während meiner langen Rede sinkt Sascha auf seinem Stuhl
zurück und schüttelt immer wieder fassungslos den Kopf.
„Wahnsinn“, murmelt er.
Mein Hals ist ganz trocken und ich trinke einen Schluck.
Diese Pause nutzt beide, um mir ihr Beileid auszusprechen.
„Danke“, murmle ich.
Einen Moment herrscht absolute Stille, in der jeder seinen
Gedanken nachhängt.
Vivien putzt sich energisch die Nase und sagt anschließend: „Fabian
hat Domi in einem Brief von diesem verrückten Handel erzählt.“ Kurz blickt sie
zu mir. „Ich habe ihn gelesen und weiß, dass ihr euch treffen wolltet.“
Erneut wendet sie sich an Sascha: „Dominik wollte mit dir am
nächsten Wochenende darüber reden, Sascha. Die Neuigkeiten haben ihn ziemlich
überrollt und er musste es selbst erst richtig verarbeiten.“
„Ja, verstehe ich. So was hätte er mir nie am Telefon
gesteckt“, sagt er und mustert mich nachdenklich. „Sag mal, bist du mit dem ICE
aus Richtung Süden angekommen?“
Ich nicke. „Wieso fragst du?“
„Weil ich bei irgendeinem Zwischenhalt dachte, ich sehe
Gespenster. Aber dann habe ich vermutlich wirklich dich beim Einsteigen
beobachtet.“
Der Arme! Das dürfte ihn ziemlich geschockt haben.
Mir brennt allerdings eine andere Sache unter den Nägeln.
„Sag mal, Vivien, hat Dominik Barbara eigentlich darauf
angesprochen?“
„Nein, er wollte erst mal alles geheim halten. Und in deinem
Brief steht ja letztlich alles drin. Barbara hätte es bestätigen können, aber
wozu? Weißt du, Domi war sauer, dass er von dir nichts wusste. Er fand die
Umstände und den Handel halb so wild, weil eben alle etwas davon hatten, aber
er fand schrecklich, dich bisher nicht gekannt zu haben.“ Sie seufzt leise und
sieht in ihren Kaffeebecher.
Ich greife über den Tisch nach ihrer Hand und drücke sie
leicht.
„Mir ging es ebenso, als ich es erfahren habe. Was wäre so
schlimm gewesen, es uns ab einem gewissen Alter zu erzählen? Wir hätten uns hin
und wieder irgendwo treffen können, wo uns niemand kannte. Aber wir hätten
Brüder sein können und nun ist die Chance für immer vertan.“ Der dicke Kloß in
meinem Hals hindert mich am Weiterreden.
„Ich muss das erst verdauen, aber … Ich bin ehrlich
gesagt sehr, sehr neugierig auf dich. Wo genau lebst du? Hast du Kinder? Eine
Frau? Was machst du beruflich?“ Saschas Fragen kommen eine nach der anderen, bis
Vivien zu lachen beginnt.
„Sascha, wenn du ihn was fragst, solltest du zwischendurch
Luft holen und ihn auch mal antworten lassen!“
Das lässt Sascha leise kichern. „Sorry, ehrlich, aber deine
Anwesenheit ist wohl nicht nur für mich eine Ablenkung von dem, was uns
momentan bewegt. Ich persönlich denke lieber über dich nach, als über den Tod
meines besten Freundes“, sagt er deutlich ernster.
„Absolut verständlich. Nachdem meine Mutter gestorben ist,
war ich auch für jede Ablenkung dankbar. Dann werde ich mal versuchen, deine
Wissbegier zu befriedigen“, erwidere ich und lache ebenfalls. „Ich lebe, solange
ich denken kann, in Heidelberg und habe dort eine Motorradwerkstatt. Mit einer
Frau und Kindern kann ich nicht dienen. Was möchtest du sonst noch wissen?
Schuh- und Kleidergröße? Lieblingsessen?“
Da er mich und meine Verrücktheiten nicht kennt, zwinkere
ich ihm zu, damit er weiß, dass ich es scherzhaft meine.
„Verdammt, bin ich wieder aufgefallen …“, gibt er
amüsiert von sich. „Aber nein, alles gut. Danke, dass du so offen bist.“
Ich mag Sascha. Wir scheinen humortechnisch ziemlich auf
einer Wellenlänge zu sein. Schade, dass wir uns unter so traurigen Umständen
kennenlernen.
„Jetzt bin ich dran mit der Fragestunde. Wie hast du meinen
Bruder eigentlich kennengelernt?“
„Domi und ich waren zusammen im Kindergarten, in allen
darauffolgenden Schulen und erst zum Studium haben sich unsere Wege ein wenig
getrennt. Ich komme gebürtig von hier, bin aber nach meinem Abschluss an der
Uni irgendwann in Stuttgart gelandet.“
„Du sagst, er war dein bester Freund, habt ihr denn trotz
deines Wegganges Kontakt gehalten?“ Irgendwie bin ich neugierig, wie intensiv
ihre Freundschaft war.
„Einmal im Monat haben wir uns ein Wochenende lang
getroffen. Meistens hier, weil ich nicht verheiratet bin und wir Vivien nicht
ausklammern wollten.“
„Ziemlich ungewöhnlich in der heutigen Zeit, dass solch eine
Verbindung trotz der Entfernung gehalten hat. Finde ich aber super.“
„Wenn du noch zum Bestatter willst, musst du bald los,
Sascha“, wirft Vivien ein und unterbricht uns damit.
Er sieht zu ihr, dann auf seine Armbanduhr und nickt. „Ja,
ich will ihn auf jeden Fall noch mal sehen und mich verabschieden. Kann ich deinen
Wagen nehmen, Viv?“
Meine … Schwägerin nickt bestätigend. „Du weißt ja, wo
du den Schlüssel findest.“
„Würde es dir etwas ausmachen, mich mitzunehmen?“, frage ich
Sascha.
„Natürlich nicht!“ Er lächelt angedeutet. „Viv, wenn wir
wiederkommen, helfe ich beim Abendbrot machen, okay?“
„Ich mache alles fertig und wenn ihr zurück seid, essen wir.
Du bleibst doch zum Essen, Fabian?“ Vivien sieht mich hoffnungsvoll an.
„Sehr gerne. Macht es dir auch wirklich nichts aus?“ Muss
ich fragen, weil ich mir vorstellen kann, dass es für sie nicht leicht ist,
mich ständig anzusehen.
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich freue mich, wenn du
bei uns bist.“
„Dann bis nachher“, sage ich und folge Sascha in den Flur.