Mittwoch, 10. November 2021

Leseprobe - Entscheidung

  Leseprobe

Heute

Mir ist kalt. Innerlich.

Ich stehe am Fenster. Starre in den grauen, wolkenverhangenen Himmel, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Fest schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper. Eine instinktive Geste. Geboren aus der Angst, auseinanderzubrechen und gleichzeitig der sinnlose Versuch, das Eis aus meinen Gliedern zu vertreiben.

Deine Nähe fehlt mir so sehr. Deine Wärme. Deine liebevollen Worte, die mir sagen, alles wird wieder gut. Nur du weißt, wie mies ich mich immer noch fühle, wie schuldig. Bei dir finde ich die nötige Stärke und den Rückhalt, diese schlimme Zeit zu bewältigen und zu überstehen.

Doch du bist zu weit entfernt. Ich kann nicht für ein paar Minuten zu dir flüchten, mich in deine Umarmung fallenlassen.

Suchend schweift mein Blick umher. Wo ist das verdammte Handy? Ich muss deine Stimme hören … sofort! Bereits beim zweiten Rufzeichen meldest du dich. Mein tiefes, erleichtertes Seufzen sagt dir sofort, was mit mir los ist.

„Schatz, was ist los? Machst du dir wieder Vorwürfe?“

Ich bringe keinen Ton heraus, die Kehle ist wie zugeschnürt. Immer triffst du direkt den Kern, ohne dass ich etwas erklären muss. Du spürst selbst über große Entfernungen intuitiv, was mich quält. Ein paarmal schlucke ich hart, um die Tränen zu unterdrücken und meine Stimme in den Griff zu bekommen.

„Jaaaaa ... es ist doch meine Schuld ...“ Oh Mann, ich klinge wie ein Jammerlappen.

In den letzten Wochen gehe ich mir damit selbst auf die Nerven. Dass du mich noch erträgst, grenzt an ein Wunder. In jedem Telefonat läuft es irgendwann darauf hinaus, dass ich dich mit meinem schlechten Gewissen zu texte. Ebenso bei den seltenen Gelegenheiten, an denen wir uns treffen können. Jedes Mal musst du mich auffangen, weil immer neue Selbstvorwürfe mich in die Knie zwingen. Womit habe ich dich eigentlich verdient?

„Hör auf damit. Wie lange willst du dich von dem Mistkerl noch manipulieren lassen? Es ist nicht deine Schuld. Du hast gar nichts falsch gemacht, außer, nicht mehr nach seiner Pfeife zu tanzen. Bitte mach dich nicht wieder selbst fertig, das ist er nicht wert.“

„Wäre ich beruflich nicht so eingespannt gewesen, da…“

„Schluss damit!“, fällst du mir rigoros ins Wort. „Du machst dich völlig unnötig verrückt. Ich lasse keinesfalls zu, dass du ihm allein gegenübertrittst! In zwei Stunden bin ich bei dir.“

Ehe ich etwas erwidern kann, hast du aufgelegt. Wie lange ich das Handy noch ans Ohr halte und das nervende Geräusch nachhallt, kann ich gar nicht sagen.

Ich fasse es nicht! Du kommst her, willst mir beistehen. Trotz deiner vielen Verpflichtungen.

Tief durchatmen. Noch mal. Ich spüre die einkehrende Ruhe. Du wirst bei mir sein und mir allein durch deine Anwesenheit den nötigen Halt geben.

Den Mut, mich allen ungerechtfertigten Vorhaltungen zu widersetzen.

Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass du recht hast. Es ist nicht allein mein Fehler. Geht eine Beziehung den Bach runter, haben beide Seiten Anteil daran. Wenn ich deinen Worten vertraue, bin ich sogar eher das Opfer. Mein Kopf sagt mir jedoch beharrlich etwas anderes.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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