Montag, 2. Dezember 2024

[Leseprobe] - Lucky in Chains

 

Heute ist mein neunzehnter Geburtstag und ich habe mich darauf gefreut, lange zu schlafen und einfach nur rumzugammeln. Wie es mit solchen Vorhaben aber meist läuft – sie gehen in die Hose.

Am Himmel zeigen sich gerade die ersten hellen Streifen des heraufziehenden Morgens, als ich mich bereits unruhig im Bett herumwälze.

Verhasste Gefühle lassen mich nicht mehr schlafen. Meine Vergangenheit, die unsichere Zukunft, alles dreht sich wild im Kreis, gönnt mir keine ruhige Minute mehr.

Zur Ablenkung schalte ich den Fernseher ein. Mit einem Becher Kaffee und meiner letzten Scheibe Brot krieche ich wieder unter die warme Bettdecke.

Die über den Bildschirm flackernden Daily Soaps sollen eigentlich für Zerstreuung sorgen, machen mich aber nur wütend. Wie kann man sich als halbwegs intelligenter Mensch regelmäßig solch einen unrealistischen Scheiß angucken?

Den ganzen Vormittag zappe ich durch die Sender, finde hin und wieder eine Tierdoku, bei der ich hängen bleibe. Darauf konzentrieren kann ich mich allerdings nicht, weil es in meinem Unterbewusstsein weiterhin brodelt.

Geburtstag!

Alle Welt macht ein wahnsinniges Geschiss darum. Ich habe diesen Tag nie gefeiert.

Warum auch? Das einzig Gute bestand bisher darin, der Volljährigkeit ein Stück näher zu kommen.

Allerdings mache ich mir jedes Jahr selbst ein Geschenk. Ich bediene keine Freier. Von diesem Grundsatz weiche ich nicht ab. Niemals!

Am Spätnachmittag habe ich die Schnauze voll.

Vom Grübeln, dem ätzenden Fernsehprogramm, eigentlich von allem. Zusätzlich rebelliert mein Magen, meldet lautstark, dass er gefälligst mit anständiger Nahrung gefüllt werden will.

Aus meinem Kleiderschrank krame ich weite, schlabberige Klamotten hervor. Ich will nicht mit den aufreizend engen, tiefsitzenden Jeans und kurzen Shirts auf die Straße. Das ist Arbeitskleidung und auf Diskussionen mit potenziellen Kunden verspüre ich keinen Bock.

Mein strohblondes Haar stopfe ich, so gut es geht, unter ein Basecap und ziehe den Schirm tief ins Gesicht. Auf diese Weise will ich meine kobaltblauen Augen verbergen.

Als ich anfing, auf den Strich zu gehen, habe ich schnell begriffen, das schwule Kerle mein auffälliges Aussehen total antörnend finden. Zwar bin ich nicht mehr so schlaksig und ungelenk wie mit sechzehn, aber immer noch extrem schlank. Selbst mein Gesicht weist bisher keine markanten männlichen Züge auf.

Fünfzehn Minuten Fußweg von meiner Wohnung entfernt gibt es ein preiswertes Restaurant. Das Essen ist saulecker und dort verkehren nur normale Leute.

Da ich häufig hier esse, schenkt mir der Besitzer ein strahlendes Lächeln, als ich den Laden betrete.

„Wie immer?“, fragt er.

„Japp, und gib mir ein großes Bier.“

Nach zwei weiteren kühlen Blonden serviert er mir ein riesiges Steak mit Pommes und Salat.

So laut mein Magen vorher nach Nahrung gebrüllt hat, als der Teller vor mir steht, ist der Hunger wie weggeblasen. Wenige Bissen genügen und sie liegen mir wie ein Stein im Magen.

Ein dicker Kloß blockiert meine Kehle.

Nur Bier kann dieses Hindernis überwinden und davon gönne ich mir noch ein paar.

~*~

Die Hände tief in den Taschen meiner ausgeblichenen, schlabberigen Jeans vergraben, stromere ich nach dem Essen gedankenverloren durch die Straßen.

Dämmerung breitet ihr graues Tuch über die Stadt. In diesem Viertel interessiert es jedoch niemanden. Hier erwacht das Leben gerade erst.

Eine grell beleuchtete Bar reiht sich an die nächste. Verrufene Kneipen öffnen ihre Tore und verschlingen ein Publikum, dem man im Hellen geflissentlich aus dem Weg gehen würde.

Spärlich bekleidete, viel zu stark geschminkte Frauen stolzieren mit wiegenden Hüften durch ihr Revier.

Gutaussehende junge Männer in aufreizend engen Hosen und kurzen Tanktops gehen ebenfalls ihrem eindeutigen Gewerbe nach.

Erst als ich mehrfach angerempelt werde, wird mir klar, wo ich mich befinde. Meine Füße haben mich in das obligatorische Stricherviertel getragen.

Missmutig verziehe ich den Mund.

Tja, da haben wir es wieder.

Ich grüble ständig darüber, welcher Komiker mir den Namen Lucky verpasst hat. An glückliche Zeiten erinnere ich mich nicht, und dass ich hier gelandet bin, spricht auch nicht gerade für meinen Namen.

Verdammt! Heute wollte ich ganz bestimmt nicht hierher, aber gut, machen wir das Beste daraus.

Vor der Tür meiner Stammkneipe bleibe ich stehen und atme tief durch.

Beim Betreten des Lokals vermeide ich jeglichen Augenkontakt und suche mir, möglichst weit weg von den anderen Gästen, einen Platz an der Theke.

Keine Freier heute!

Das steht so fest, wie das Amen in der Kirche.

Spricht mich jemand an, reagiere ich nicht oder knurre böse.

Potenzielle Kunden habe ich so erfolgreich vertrieben und selbst Stricher, mit denen ich schon mal quatsche, halten sich mittlerweile von mir fern. Selbst der Wirt wagt nicht mehr, mich in eine unserer üblichen Unterhaltungen zu verwickeln.

Die irritierten Blicke übersehe ich geflissentlich.

Mürrisch starre ich auf das Glas zwischen meinen Händen. Kampftrinken ist das Motto für den heutigen Abend. Kaum ist mein Glas geleert, genügt ein Handzeichen, schon steht ein frisch gefülltes vor mir.

Irgendetwas ist heute anders als an meinen vergangenen Geburtstagen.

Früher hat dieser Tag die Wut auf meine Erzeuger geschürt. Den Zorn darüber, dass sie mich so einem beschissenen Leben übergeben haben. Jetzt fluten nur schmerzliche Erinnerungen mein Hirn.

Zum ersten Mal wird mir knallhart bewusst, dass man mich einfach entsorgt hat.

Wie Abfall.

Einen Haufen stinkenden Müll.

Etwas völlig Wertloses und Unnützes.

Es wäre humaner gewesen, mich, das unerwünschte Wesen, einfach abzutreiben. Damit hätte mir die Frau, die mich in diese triste Welt geworfen hat, eine Menge Scheiße erspart.

Während ich verinnerliche, wie viele verschissene Lebensjahre noch vor mir liegen, rebelliert mein Magen. Mir wird übel.

Nur der Umstand, dass die Kneipe voller Gäste ist, hält mich davon ab, über die Theke zu kotzen oder in Tränen auszubrechen.

Verdammt, Lucky, reiß dich zusammen. Hör auf, über diesen Scheiß nachzudenken, du kannst es eh nicht ändern.

~*~

Kühle Luft weht herein, als sich die Kneipentür öffnet und jemand das Lokal betritt. Der kalte Hauch beschert mir eine Gänsehaut.

Dicht neben mir spüre ich eine Bewegung.

Na prima! Kann dieser Tag wirklich noch beschissener werden?

Ich richte mich kerzengerade auf, hoffe, dass meine Körperhaltung genug Unnahbarkeit und Abwehr ausstrahlt, um den neuen Gast davon abzuhalten, mir auf den Sack zu gehen.

„Gib mir ein Bier.“

Ein Schauer kriecht über meine Haut.

Diese Stimme!

Tief. Samtenes Timbre.

Die Härchen an meinen Unterarmen richten sich auf, als würde mich jemand streicheln.

Verdammt! Wie kann eine Stimme mit einem dermaßen profanen Satz nur so viel unterschwellige Erotik ausstrahlen?

Der rauchige Klang dringt mir in sämtliche Poren, lässt mein Blut schneller fließen. Vibrierend legt er sich in meinen Nacken, rieselt langsam die Wirbelsäule hinunter.

Ich wehre mich vehement gegen meine Reaktionen. Weigere mich strikt, der drängenden Neugier nachzugeben, den Kopf zu heben und meinen Nachbarn zu mustern.

Keine Freier!

Als der Wirt das Gewünschte vor dem Gast abstellt, ertönt die Stimme erneut.

„Mach dem Zwerg auch eins.“

Zwerg? Hallo! Was soll der Scheiß?

Immerhin messe ich 1,80 Meter und die fallen mit Sicherheit nicht unter Zwergengröße.

Ärgerlich presse ich die Lippen aufeinander, um nicht unbedacht einen blöden Spruch loszulassen.

So ein arroganter Arsch. Auf solche Wichser kann ich gar nicht. Automatisch schließen sich meine Finger fester um mein Glas, das ich bisher in den Händen gedreht habe.

„Den lass lieber in Ruhe. Lucky ist heute nicht gut drauf“, entgegnet der Wirt.

„Man sollte meinen, jemand mit solch einem Namen wäre ständig gut gelaunt.“

Ich spüre, wie der Sprecher sich mir zuwendet. Seine Blicke hinterlassen eine brennende Spur auf meiner Haut. Es kostet mich sämtliche Willenskraft, meinen Kopf nicht in Richtung des Mannes zu drehen.

„Leck mich!“, fauche ich stattdessen.

„Oh, ein rebellischer Zwerg. Komm schon, gib dir einen Ruck. Trink etwas mit mir. Allein schmeckt es mir nicht.“

Verdammt! Die Stimme säuselt, schnurrt, macht mich irre.

Heute ist echt ein beschissener Tag.

Laufend passieren Dinge, die mich aus der Bahn werfen.

Ich wehre mich gegen die Verlockung, fechte einen inneren Kampf, aber meine Neugier siegt. Den Kopf heben, stur geradeaus in die verspiegelte Front hinter der Theke starren, ist eins.

Hätte ich das bloß nicht getan!

Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich wie einen Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappen.

Der Mann überragt mich um mindestens zehn Zentimeter. Rotbraunes, glänzendes Haar, ebenso ungebändigt wie meins, beeindruckend breite Schultern.

Lächelnd wendet er den Kopf und die Blicke unserer Spiegelbilder kreuzen sich.

Dunkle, in diesem Licht fast schwarz erscheinende Augen treffen auf mein Kobaltblau. Atemlos, gebannt starren wir uns einige endlos scheinende Sekunden an, ehe der riesige Kerl millimeterweise näher rückt. Unsere Schultern berühren sich und wir zucken beide wie unter einem Stromschlag zusammen.

In Zeitlupe drehe ich mich um. Dicht stehen wir einander gegenüber. Erneut kreuzen sich unsere Blicke.

Millionen von Ameisen krabbeln über meine Haut. Das Blut rauscht wild durch meine Adern, in den Ohren dröhnt mein aus dem Takt geratener Herzschlag.

Der Mann ist … ja, anders kann man es nicht ausdrücken … er ist einfach zu schön, um wahr zu sein.

Ein ebenmäßiges Gesicht. Volle Lippen, die zum Küssen einladen. Der leichte Bartschatten bedeckt seine Wangen und das markante Kinn.

Wie in Trance gleitet meine Hand unter die offenstehende Jacke, schiebt sie zur Seite. Meine Finger graben sich in seine Hüfte, ziehen ihn näher heran. Nachgiebig folgt sein beeindruckender Körper dieser Aufforderung. Kein Blatt passt jetzt mehr zwischen uns.

Aufreizend reibe ich mich an ihm, lege den Kopf in den Nacken, betrachte weiter sein Gesicht. Fasziniert sehe ich, wie seine Augen noch eine Nuance dunkler werden.

„Wie heißt du?“, frage ich heiser.

Mein Atem streift dabei seine weich aussehenden Lippen. Bereitwillig öffnen sie sich, saugen tief die Luft ein.

„Dave. Mein Name ist Dave, kleiner Lucky. Und du gehörst ab sofort mir.“

BAM!

Als wäre neben mir eine Bombe explodiert, so laut erscheint der Knall, mit dem ich in der Realität aufschlage.

Abfällig schnaubend versetze ich dem Kerl einen heftigen Stoß, so dass er zwei Schritte rückwärts taumelt.

„Vergiss es! Ich gehöre nur mir und für einen Zuhälter arbeite ich mit Sicherheit nicht“, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und wende mich meinem Bier zu.

Die anfängliche Faszination ist verflogen, zurück bleibt leichtes Bedauern.

Ich brauche niemanden, der meine sauer verdiente Kohle konfisziert. Erst recht keinen Scheißkerl, der mir die Fresse poliert, wenn die Kasse nicht hoch genug ist.

„Ich bin ganz sicher kein Zuhälter. Wir sollten uns unterhalten, dabei erfährst du auch, was ich beruflich mache. Was hältst du davon?“

„Hau ab! Lass mich in Ruhe! Ich bediene heute keine Freier.“

Ich nehme mein Glas und verziehe mich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals.

Auf dem Weg dort hin, starren mich die Gäste an. Manche belustigt, andere süffisant grinsend. Zwei Stricher, die ich flüchtig kenne, erheben sich umgehend und streben Richtung Theke.

Genau, sollen die sich mit dem arroganten Spinner beschäftigen. Für mich ist das Thema durch.

~*~

Habe ich geglaubt, den Kerl durch meinen Abgang zu verscheuchen, werde ich schnell eines Besseren belehrt.

Kaum zwei Minuten später wabert sein betörender Duft um mich herum.

Ehe Dave sich auf dem Stuhl mir gegenüber niederlässt, zupft er mir mit einer blitzschnellen Bewegung das Basecap vom Kopf.

Wutentbrannt hebe ich den Blick, sehe, wie seine dunklen Augen mich intensiv mustern.

„Na, sieh einer an, was da zum Vorschein kommt! Warum verbirgst du deine ungewöhnlichen Reize unter dieser blöden Kappe? Dazu deine furchtbare Kleidung. So kannst du aber nicht viele Freier anlocken.“

Hitze bringt meine Wangen zum Glühen. Zu meiner Wut über seine Aufdringlichkeit gesellt sich Scham wegen meines abgerissenen Äußeren. Ich senke den Kopf.

„Das ist Absicht. Ich will heute keine Freier bedienen und nur so kann ich sie mir einigermaßen vom Leib halten. Geh zurück an die Theke. Einer der Jungs bedient dich gerne. Wenn du genug zahlst, kannst du sogar beide haben. Ihre Klamotten entsprechen wohl eher deinen Ansprüchen“, murmle ich.

„Die interessieren mich nicht. Sag mir lieber, warum du ständig betonst, dass du heute nicht arbeiten willst?“

„Das geht dich nichts an. Ich will nicht. Basta! Hau endlich ab und lass mich in Ruhe.“

Auch wenn ich mehr zur Tischplatte spreche, bin ich froh, meine Stimme wieder im Griff zu haben, um meine Worte energisch und abweisend klingen zu lassen.

Ich muss den Kerl unbedingt loswerden. Seine Fragen wühlen mich nur weiter auf, bringen die ganzen blöden Gedanken und Gefühle, die mich schon den ganzen Tag verfolgen, zu sehr an die Oberfläche.

Scheiße, was ist bloß mit mir los? Nervös fahre ich mir mit beiden Händen durchs Haar.

„Komm schon, Lucky. Erzähl es mir. Du machst mich immer neugieriger.“

Dave beugt sich über den Tisch, greift an mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Die über dem Tisch befindliche Lampe leuchtet sein Gesicht aus. Seine Augen haben, wie ich jetzt erkennen kann, die Farbe bitterer Schokolade.

Aus ihnen strahlen mir Mitgefühl und ehrliches Interesse entgegen. Ein freundliches Lächeln kräuselt seine Lippen.

Mein Herz setzt ein paar Takte aus, schlägt danach aufgeregt weiter, will mich dazu bringen, ihm zu vertrauen.

Was ist mit meinem Schwur, auf solche Anzeichen nie wieder hereinzufallen? Schließlich habe ich als kleines Kind schon gelernt, dass Freundlichkeit und Verständnis nur so lange vorgespielt werden, bis der andere erreicht hat, was er will.

Dieser Kerl kratzt jedoch mit seinem Verhalten an meinem Panzer, hat bereits tiefe Risse und Löcher verursacht.

Ausgerechnet heute bin ich nicht in der Lage, mich gegen solche Angriffe zu schützen.

Wo sind die verdammte Wut und der Starrsinn, wenn man sie braucht?

Kunden sorgen sich nicht um einen Stricher.

Warum jetzt dieser Typ?

Ausgerechnet einer, der mir gefährlich unter die Haut geht.

Meine Abwehr bricht zusammen, mein Blick verschwimmt.

Ich blinzle, will die massiv heraufdrängenden Tränen vertreiben. Es gelingt mir nicht ganz, einige Tropfen finden den Weg über meine Wangen.

„Schluss jetzt! Du brauchst Ruhe. Ich zahle, danach fahren wir zu mir. Dort wirst du mir sagen, was los ist. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Die rauchige Stimme, der fordernde Klang, die Hilfsbereitschaft, alles lässt mich schaudern.

Mein Kopf ist wie leergefegt.

Ohne weiter nachzudenken, erhebe ich mich. Mit müder Geste wische ich die nassen Spuren von meinem Gesicht und folge Dave.

Er begleicht beide Rechnungen beim Wirt. Meinen halbherzigen Protest stoppt er mit einer energischen Handbewegung. Gemeinsam verlassen wir das Lokal.



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