Montag, 2. Dezember 2024

[Leseprobe] ...manchmal birgt Winteridylle eine zweite Chance

 

1 Weihnachtswahnsinn - Julian

„Vielen Dank. Es freut mich, dass wir den Fall noch im alten Jahr zu unserer beiderseitigen Zufriedenheit klären konnten. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein gesegnetes Weihnachtsfest.“

Erleichtert drücke ich auf die Beenden-Taste der Telefonanlage und ziehe das Headset vom Kopf. Damit es nach den Feiertagen wieder voll einsatzfähig ist, stelle ich es ordentlich in die Ladestation.

Endlich Feierabend, aber nicht nur das.

Ich habe Urlaub!

Wie im Dezember üblich, sind die letzten Wochen extrem stressig gewesen.

Bedingt durch meinen Beruf als Buchhalter ist es speziell zum Jahresende hin immer etwas hektisch.

Unklare Fälle warten auf Erledigung, vorbereitende Arbeiten für den Jahresabschluss stehen an und die Bonusabrechnungen müssen bis Ende März erstellt sein.

Normalerweise herrscht in dieser Zeit absolute Urlaubssperre.

Meine tollen Kollegen haben allerdings dafür gesorgt, dass unser oberster Chef mir zähneknirschend vierzehn freie Tage gewährt hat.

Seit Jahren habe ich die Arbeiten der Kollegen mit Kindern übernommen, damit sie wenigstens zwischen den Feiertagen frei bekommen.

Jetzt revanchieren sie sich für meine Hilfsbereitschaft, wofür ich ihnen sehr dankbar bin.

Mehr als mein Job nerven mich in diesem Jahr jedoch die gehetzt wirkenden Menschen.

Egal ob während der Mittagspause oder nach Feierabend, ständig laufen einem gestresste und extrem unfreundliche Leute über den Weg.

Jeder ist auf der Suche nach dem ultimativen Geschenk für Tante Erna, Onkel Jupp, Oma Gerti, die lieben Geschwister oder wen-auch-immer man bedenken muss.

Seitdem ich ins Berufsleben eingestiegen bin, habe ich mich ebenfalls alle Jahre wieder in diesen Weihnachtswahnsinn gestürzt.

Tagelangen Überlegungen, wem man was schenken könnte, folgten unzählige Stunden in überfüllten Geschäften.

Als wäre es nicht schon genug, sich durch das Geschiebe und Geschubse zu drängeln, wird man zusätzlich aus jedem einzelnen Lautsprecher mit nerviger Weihnachtsmusik beschallt.

In diesem Jahr wird es auf jeden Fall anders laufen!

Ich steige aus dem Hamsterrad aus und morgen bin ich auf dem Weg nach Half Moon Bay in Kalifornien.

Bernie, ein sehr guter Freund, hat mir diesen Trip schmackhaft gemacht. Er hat in den höchsten Tönen von dem Gay-Hotel geschwärmt.

Wahnsinnig gutaussehendes männliches Personal, zahllose Single-Gäste und das für mich ausschlaggebende Kriterium – es gibt keinerlei weihnachtliche Dekorationen in dem Haus.

„Julian, kommst du mit auf einen Glühwein? So als Einstimmung auf deinen Urlaub?“ Manfreds Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Auch wenn ich sonst kein Kostverächter bin, diesmal kann ich nicht mit.

„Sorry, nein. Heute muss ich passen. Mein Flieger geht morgen sehr früh und ich habe noch nicht gepackt.“ Entschuldigend sehe ich ihn an, während ich meinen PC herunterfahre.

„Du ziehst das wirklich durch, was? Flucht vor Weihnachten!“ Mit einer ausladenden Geste weist er auf die blinkende Deko überall im Büro.

„Japp. Keine Weihnachtsgans, kein Last Christmas und kein Geheule, dass früher alles besinnlicher war.“ … und vor allem keine blöden Fragen von der Familie, was mit Toni ist.

„Du Glückspilz!“, sagt Carmen seufzend, die ebenfalls an meinen Schreibtisch tritt, während sie ihren Mantel anzieht. „Meine Mutter jammert schon seit einer Woche, wie viel sie noch backen und kochen muss, und meine Schwester verteilt Listen, was ihre unerzogenen Ableger alles nicht essen dürfen.“

„Warum soll es dir besser gehen als uns?“, bemerkt Markus, unser Bilanzbuchhalter und Büroleiter.

Es sieht so aus, als würde er sich heute der feierwütigen Truppe anschließen.

Um meinen Schreibtisch herum wird es immer voller.

Nach und nach treten fast alle Kollegen aus unserem Großraumbüro heran und ich bekomme langsam Platzangst.

„Leute, ich muss echt los.“ Vorsichtig rolle ich mit dem Stuhl zurück, um niemandem über die Füße zu fahren.

Ich stehe auf und schlüpfe in meine dicke Daunenjacke, die seit der Mittagspause griffbereit über der Stuhllehne hängt. Den Schal wickele ich mir achtlos um den Hals.

Bäh … diese dicken Klamotten werde ich in der nächsten Zeit nicht brauchen.

Wo ich die Feiertage verbringe, scheint zwar nicht unbedingt die Sonne, aber es ist keinesfalls so nasskalt wie hier.

In einem fröhlichen Durcheinander rufen mir alle die besten Wünsche nach, während ich eilig das Büro verlasse.

~*~

„Juli, das kannst du nicht machen!“

Nina, meine geringfügig ältere Schwester, sitzt im Schneidersitz auf meinem Bett. Aufgebracht rupft sie an einem dicken Pullover herum, den ich achtlos dort hingeworfen habe.

„Ich kann und ich werde“, entgegne ich stoisch zum wohl hundertsten Mal in den letzten Wochen. „Meinst du, ich packe meinen Koffer aus Langeweile?“

„Aber Mama und Papa! Du kannst sie doch an Weihnachten nicht allein lassen!“, jammert sie wie eine pubertierende Fünfzehnjährige.

Seufzend verharrt meine Hand mit den gefalteten Shorts, die ich für wärmere Tage vorsorglich mitnehme, in der Luft. Mit schräg gelegtem Kopf sehe ich sie durchdringend an.

„Echt jetzt? Du ziehst die Arme-Eltern-Karte? Nina, du weißt genau, in ihrem Haus wird es von Freunden und Verwandten wimmeln. Den beiden wird überhaupt nicht auffallen, dass ich fehle.“

„Das stimmt doch gar nicht!“ Empört bläht Nina die Wangen auf. „Ihr Nesthäkchen werden sie auf jeden Fall vermissen.“

„Nesthäkchen? So ein Schwachsinn! Du bist gerade mal achtzehn Minuten älter als ich, und das auch nur, weil du dich wie immer vorgedrängelt hast.“

Ich nehme meine Tätigkeit wieder auf. Das spöttische Lachen über ihre Versuche, mich zum Bleiben zu überreden, versuche ich gar nicht erst zu unterdrücken.

„Ich fliege, Nina. Punkt! Morgen werde ich an der Poolbar sitzen und einen Cocktail auf dein Wohl trinken.“

„Es wird garantiert regnen“, unkt sie mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

Nachdem ich einen Stapel Shirts in den Koffer gelegt habe, setze ich mich neben sie. Sanft befreie ich meinen Pullover aus ihren Händen, lege anschließend den Arm um ihre Schultern und ziehe sie an mich.

„Gönn es mir doch, Schwesterchen. Schau, wir sind inzwischen zweiunddreißig und seit Kindesbeinen mache ich diesen ganzen Rummel klaglos mit. Denkst du nicht, dass ich es verdient habe, einfach mal etwas nur für mich zu tun?“

„Du vermisst Toni, richtig?“ Nina hat sich an meine Brust gekuschelt und blickt nun fragend zu mir auf.

Mir entkommt ein tiefer Seufzer.

Meinen Ex …? Meinen Arschloch-Ex?

Nina irrt sich, ich vermisse ihn schon lange nicht mehr. Inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, dass ich vor Wut platze, wenn ich bloß an ihn denke.

Vor sieben Monaten bin ich dahintergekommen, dass der Mistkerl mich von Anfang an betrogen hat.

Seiner Verlogenheit habe ich zu verdanken, dass mir der ganze Weihnachtstrubel in diesem Jahr unsäglich auf die Nerven geht.

Das ist einer der Gründe, warum ich den Heiligabend nicht bei meinen Eltern feiern will. Dort würde mir nur mit aller Macht wieder vor Augen geführt, wie viele Jahre ich an dieses Arschloch verschwendet habe.

Außerdem brauche ich Abstand von den lieben Verwandten mit ihren dummen Fragen.

Also ab in den Flieger und neue Eindrücke sammeln.

Geile Kerle, unverbindlicher Sex, besseres Wetter und ein unweihnachtliches, cooles Hotel werden mir helfen, den ganzen Rummel in den kommenden Jahren wieder lockerer wegzustecken.

„Toni ist Geschichte. Begraben und vergessen“, erwidere ich entschieden und schiebe Nina sanft von mir, um aufzustehen. „Den Pullover kannst du übrigens zusammenlegen, den brauche ich nicht.“

„Mach das doch selbst, Mister-ich-will-mich-finden-und-meine-Schwester-alleine-im-Chaos-untergehen-lassen.“ Prompt fliegt der Pullover in hohem Bogen direkt in mein Gesicht.

Ich liebe meine Schwester, aber manchmal geht mir ihr Egoismus sehr gegen den Strich. Sie hat keinen Bock, sich den nervigen Verwandten allein zu stellen, daher stinkt es ihr, dass ich ihr diesmal nicht helfend zur Seite stehe.

Nina krabbelt vom Bett und stapft zur Tür. „Ich mache mir jetzt einen Kakao. Extra süß, mit Marshmallows.“

Sie hat die Tür schon hinter sich geschlossen, als sie sie wieder öffnet und den Kopf ins Zimmer streckt. „Wann soll ich dich morgen zum Flughafen fahren? Ich meine, falls ich jemals wieder aus dem Zuckerkoma erwache.“

Ich lächele. „Um zwanzig nach sieben geht mein Flieger.“

„Okay, ich stelle mir den Wecker entsprechend. Ach, und noch was … Ich hab dich lieb.“ Sie erwidert mein Lächeln und verschwindet.

Kurz darauf höre ich sie in der Küche rumoren.

Ich gehe jede Wette ein, dass sie mir gleich auch einen Becher Kakao bringt.


 

2 Up, up and away - Julian

Das ist der absolute Wahnsinn!

Ich kann nicht fassen, wie viele Leute speziell zu den Feiertagen in Urlaub fliegen.

Am Londoner Flughafen muss ich echt kämpfen, um an den Abflugschalter meines Direktfluges nach San Francisco heranzukommen.

Klar, ich sehe jedes Jahr in den Nachrichten die Staus auf den Autobahnen. Alle wollen in die Berge, weil sie nur dort die richtig tollen Skipisten finden.

Hier stehen die Menschen jedoch Schlange, um nach Florida oder auf die Bahamas zu fliegen.

Der Krach um mich herum nimmt auch nicht ab, als ich endlich die Kontrollen hinter mir habe und den Wartebereich betrete.

Knappe dreißig Minuten später verstaue ich aufatmend mein Handgepäck und setze mich hin.

Der Flieger ist bis auf den letzten Platz besetzt.

Aus den Gesprächsfetzen, die von allen Seiten auf mich eindringen, entnehme ich, dass es sich bei den Mitreisenden großteils um Familien handelt.

Sie nutzen die Festtage, um Verwandten oder Freunden in den fernen Staaten ihren Nachwuchs zu präsentieren.

Jetzt wundert mich auch nicht mehr, dass so viele Kinder an Bord sind, die den Lärmpegel von Stunde zu Stunde steigen lassen.

Okay, ich kann die Kids verstehen. Für die meisten scheint es der erste Flug ihres Lebens zu sein, daher sind sie entsprechend aufgeregt. Dazu kommt die mangelnde Bewegung, und mit Gesellschaftsspielen lassen sie sich auf Dauer auch nicht ablenken.

Unsere Flugzeit beträgt ungefähr elf Stunden. Ich habe das Gefühl, sie zieht sich in die Länge, wie billiger Käse auf einer Pizza.

Mein Sitznachbar verschläft fast den ganzen Flug, was an sich sehr angenehm wäre, würde er mir nicht die ganze Zeit rhythmisch ins Ohr schnarchen.

Selbst das Essen hebt meine Laune nicht. Es sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus. Nach dem ersten Bissen schiebe ich das Tablett angewidert von mir. Selbst Pappe dürfte schmackhafter sein.

Meinen knurrenden Magen mit Softdrinks zu besänftigen, gelingt leider nur vorübergehend.

Ich würde liebend gerne ein paar Stunden schlafen, schon damit die Zeit schneller vergeht. Die Lärmkulisse verhindert das allerdings sehr effektiv.

So langsam liegen meine Nerven blank.

Meinen Start in den Urlaub habe ich mir anders vorgestellt.

Welch eine Erleichterung, als die Stimme des Flugkapitäns verkündet, dass wir in wenigen Minuten in San Francisco landen werden.

Im Internet habe ich mich schlau gelesen, auf welcher Seite man in der Maschine sitzen sollte, wenn man einen Blick auf die Golden Gate Bridge werfen will.

Bei meiner Buchung habe ich das entsprechend berücksichtigt.

Allerdings stand in mehreren Foren, der Nebel wäre meist zu dicht, um sie sehen zu können.

Ich setze mich aufrecht hin und verrenke mir den Hals.

Die Bucht ist in ihrer ganzen Breite von einer wabernden Milchsuppe bedeckt. Nur die Berge im Hintergrund kann man klar erkennen.

Anscheinend hat sich die ganze Welt gegen mich verschworen.

Wütend lehne ich mich wieder in meinen Sitz.

Nach diesem beschissenen Flug hätte ich eigentlich ein Erfolgserlebnis verdient gehabt.

Langsam rollt die Maschine über den Asphalt der Landebahn, bis sie endlich zum Stillstand kommt.

Geduldig warte ich das Gedränge der Mitreisenden ab und stopfe in der Zeit die dicke Steppjacke, Schal, Mütze und Handschuhe in meinen Rucksack.

Ziemlich als Letzter verlasse ich den Flieger.

Jetzt noch den Koffer vom Gepäckband holen und den Zoll durchqueren, dann habe ich es fast geschafft.

In der Ankunftshalle soll jemand vom Hotel auf mich warten.

So ein Shuttleservice hat was. Aber bei dem Preis, den ich für den Aufenthalt in dem Gay-Resort zahle, sollte das auch drin sein.

An der Passkontrolle gibt es keine Probleme. Mein Visum ist okay und den Grund meines Aufenthaltes akzeptiert man ohne Nachfragen. Na, wenigstens etwas!

Meine lieben Arbeitskollegen haben mir nämlich ein paar haarsträubende Schauergeschichten über die Einreise in die USA aufgetischt.

Meine Stimmung hebt sich, je näher ich der Ankunftshalle komme.

Fröhlich klackern die Rollen meines Koffers über den Fliesenboden.

Wie von Zauberhand öffnen sich die Milchglasscheiben der elektrischen Türen, die mich aus dem Zollbereich entlassen.

~*~

Suchend sehe ich mich um.

Überall stehen Menschen mit Blumen, Ballons oder Spruchbändern. Einige haben sogar das ganze Programm aufgefahren.

Was sie alle eint, ist die freudige Aufregung in ihren Gesichtern.

Wie es aussieht, ist für die meisten heute der Tag der weihnachtlichen Familienzusammenführung.

Der extrem lauten weihnachtlichen Familienzusammenführung.

Rund um mich herum rufen, lachen und singen die Menschen. Ernsthaft, einige singen tatsächlich.

Genervt verziehe ich das Gesicht.

Reg dich nicht auf, Julian. Gleich sitzt du in einem bequemen Auto, das dich ins Hotel bringt.

In die himmlische Ruhe – in den wohlverdienten Urlaub.

Endlich! Da steht jemand und hält ein Schild mit meinem Namen hoch.

Kurz verharre ich im Schritt, als mir die Aufmachung des Mannes bewusst wird. Irgendwie habe ich, wenn schon nicht mit einer Livree, so doch zumindest mit einem Anzug gerechnet.

Okay, ein weißes Hemd, schwarzer Schlips und Stoffhose hätten es auch getan. Aber gelber Turban, grüne Kurta und weiße Hose sind nicht der Stil, den ich einem Angestellten meines Hotels zugeschrieben hätte.

„Ich bin Julian Lindner“, teile ich dem bunt gekleideten Mann mit.

„Ah … herzlich willkommen. Ich nehme Ihren Koffer. Folgen Sie mir bitte“, teilt er mir in freundlich-indisch akzentuiertem Singsang mit.

Den Koffer reißt er mir dabei förmlich aus der Hand.

Der Mann schlängelt sich in unglaublichem Tempo durch die Menschmassen und ich habe Mühe, ihm zu folgen. Jetzt ist sein farbenfrohes Outfit sehr vorteilhaft. In diesem Trubel hätte ich ihn sonst garantiert verloren.

Als ich ihn endlich einhole, sehe ich gerade noch, wie mein Gepäck im Kofferraum einer Limousine verschwindet.

Umgehend reißt er die hintere Beifahrertür auf und ich werde mit einladender Handbewegung und leichter Verbeugung aufgefordert, einzusteigen.

Neugierig sehe ich aus dem Seitenfenster, als der Wagen den Flughafen verlässt. Alles ist so neu und ungewohnt.

Dazu gehört auch die indische Musik, die dezent aus den Lautsprechern dudelt. Okay, ich sollte dankbar sein, dass es keine Weihnachtsmusik ist.

Sobald das verwirrende Straßennetz der Flughafenzubringer hinter uns liegt, folgt ein Vorort nach dem anderen.

Erscheint einem die Weihnachtsbeleuchtung in Deutschland schon schlimm, wird man hier regelrecht davon erschlagen.

Es gibt kein Haus, keinen Vorgarten, keinen Baum, der nicht in kitschig-bunten Farben erstrahlt.

Überdimensionierte, aufblasbare Schnee- oder Weihnachtsmänner sind auf den Dächern befestigt. Vor fast jedem Haus findet sich ein beleuchteter Santa-Schlitten mit Rentieren, die gerade starten wollen.

Die Fassaden der Kaufhäuser sind mit Lichterketten eingefasst und in den Fenstern hängen riesige blinkende Zuckerstangen.

Sämtliche Ortschaften sind ein einziges Lichtermeer.

Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie diese farbintensiven Beleuchtungen im Dunklen aussehen.

Gott sei Dank ist in meinem Hotel alles anders.

Laut meinen Recherchen wird die Fahrt eine knappe Stunde dauern. Sobald die Städte hinter uns liegen, werde ich den Ausblick auf den Pazifik genießen können.

Obwohl ich mich riesig darauf freue, fallen mir zwischendurch immer wieder die Augen zu.


 

3 Glitzernder Schock - Julian

„Sir! Entschuldigen Sie, Sir. Wir sind da.“

Orientierungslos reiße ich die Augen auf.

Oh Mann, ich bin tatsächlich fest eingeschlafen.

Langsam öffnet sich mein Bewusstsein für das Bild, das sich mir bietet.

Über dem Eingang prangt in Leuchtbuchstaben der Name des Hotels – Ocean Sea Crest.

Soweit stimmt es. Aber das ganze Drumherum …

Nein, das kann nicht mein Hotel sein, nicht das Ocean Sea Crest, das ich gebucht habe.

Fassungslos starre ich einen Moment aus dem Fenster, ehe ich meine Stimme wiederfinde.

„Sind Sie sicher, dass dies das richtige Hotel ist?“, frage ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

„Ja, Sir. Das Ocean Sea Crest.“ Der Mann nickt eifrig und ist im Begriff auszusteigen.

„Es gibt in diesem Ort kein anderes Hotel mit dem gleichen Namen?“, hake ich sicherheitshalber nach.

„Nein, Sir, nur dieses eine. Es ist ein sehr gutes Hotel. Sie werden einen fantastischen Aufenthalt haben“, beteuert er, blickt mich aber verunsichert durch den Rückspiegel an.

„Das bezweifle ich sehr“, murmle ich und steige aus.

Seufzend sehe ich mich gründlicher um.

An dem Gebäude und in der vorgelagerten Grünanlage gibt es nicht eine Stelle, an der keine Lichterkette platziert oder eine Leuchtfigur aufgestellt ist.

Als wäre das nicht schlimm genug, blitzt und blinkt auch noch alles in den kitschigsten Farben.

Angewidert wende ich mich ab. Meine Güte, davon bekommt man ja Augenkrebs.

Mir bleibt keine Wahl, ich muss das Hotel betreten, zumindest, wenn ich mein Gepäck zurückhaben will.

Das hat der sehr beflissene Fahrer bereits auf einen dieser typischen Rollwagen mit den verchromten Rundbögen-Aufsätzen geladen und verschwindet damit in der Lobby.

Ich blinzle.

Habe ich richtig gesehen? Sind diese Rundbögen ernsthaft mit Plastiktannengirlanden und glänzenden roten Kugeln dekoriert?

Wo bin ich hier nur hingeraten?

Kopfschüttelnd folge ich dem Mann.

Kaum setze ich einen Fuß in die Empfangshalle, zucke ich zurück, als hätte mich jemand gebissen.

Direkt neben der Eingangstür steht ein völlig überladener Tannenbaum.

Aus versteckten Boxen dudelt die unvermeidliche Weihnachtsmusik. Okay, die Lautstärke ist dezent, aber für meine Ohren trotzdem eine Strafe.

Ich haste zur Rezeption und schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Fahrer mich doch am falschen Hotel abgesetzt hat.

„Guten Tag, Sir. Mein Name ist Torry. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Mir fällt die Kinnlade herunter und ich bekomme kein Wort heraus.

Der Rezeptionist ist jung, unglaublich gut gebaut und eine echte Augenweide. Hemd, Krawatte und Weste, alles mit dem Emblem des Hauses versehen, sitzen tadellos und betonen seine gute Figur.

Was mich kurzzeitig in Schockstarre versetzt, ist die typisch amerikanische Santa-Mütze. Er hat sie neckisch schräg auf seinen dichten blonden Haaren drapiert.

„Sir?“ Torrys leise fragende Stimme erinnert mich daran, warum ich hier stehe.

„Ähm … Ja … Mein Name ist Julian Lindner. Prüfen Sie bitte, ob in Ihrem Haus wirklich eine Reservierung für mich vorliegt.“

Bestimmt tritt gleich ein Fernsehmoderator aus seinem Versteck, grinst mich an und fragt: „Verstehen Sie Spaß?“

Gibt es diese Sendung eigentlich noch?

Wenn ja, treiben sich die Leute bestimmt nicht in Kalifornien herum.

Eifrig tippt Torry auf seiner Tastatur herum, die vor einem für mich nicht einsehbaren Bildschirm steht.

Während ich warte, sehe ich mich weiter um.

Selbst die Rezeption ist nicht von Lichterketten und Tannengirlanden verschont geblieben.

Die Lobby ist sehr elegant und luxuriös ausgestattet, soweit man es unter der erschlagenden Deko erkennen kann.

Was mich bei dem regen Publikumsverkehr irritiert, ist das bunt gemischte Völkchen. Familien mit Kindern, junge Paare und ältere Semester sind vertreten. Was ich allerdings gar nicht sehe, sind gleichgeschlechtliche Paare, geschweige denn allein reisende Männer.

„Ah, Mister Linden, hier habe ich Ihre Buchung.“ Torry strahlt mit den blinkenden Lichterketten um die Wette.

Diesmal reagiere ich sofort, nicht, dass der Typ mich noch für einen Trottel hält.

„Lindner. Mein Name ist Lindner“, korrigiere ich.

„Natürlich, Sir.“ Torry nickt eifrig. Sein Lächeln wird noch breiter und ich überlege, ob er gerade versucht, mich anzubaggern.

Ich muss zugeben, er ist eine ziemliche Versuchung, aber nicht mein Beuteschema. Er ist zu jung und zu zuckrig. Ich bevorzuge die dunklen, geheimnisvollen Typen.

„Ich habe alles vorbereitet. Ihre Anzahlung ist verbucht, Sie müssen nur noch die Anmeldung unterschreiben, Mister Linden.“ Dass ich den Mund öffne und den Zeigefinger hebe, übergeht er geflissentlich. „Ich habe mir erlaubt, Ihnen ein Upgrade zu geben.“ Torrys vertrauliches Zwinkern bilde ich mir nicht ein. Ganz sicher nicht.

„Wenn Sie hier bitte signieren würden?“ Er zeigt auf eine Zeile am unteren Rand des Papiers, das er mir zuschiebt.

Suchend blicke ich über den Rezeptionstresen.

„Bitte sehr.“ Hilfsbereit reicht Torry mir einen Stift in Form einer Zuckerstange.

Oh Gott. Das ist ein Albtraum! Ich erwarte, jeden Moment schweißgebadet im Flieger aufzuwachen.

Die Zuckerstange wirft allerdings eine wichtige Frage auf.

„Sagen Sie, Torry. Sind die Zimmer auch weihnachtlich dekoriert?“

„Aber natürlich, Sir!“ Als hätte jemand einen Knopf gedrückt, erscheint sein Strahlemannlächeln.

Welche Pillen Torry wohl schluckt, um in diesem Umfeld so eine blendende Laune zu haben? Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er auch eine für mich hat?

„Wie könnte es auch anders sein“, knurre ich. „Sorgen Sie bitte dafür, dass alles aus meinem Zimmer entfernt wird. Ich gehe jetzt an die Bar und genehmige mir einen Drink. Wenn ich zurückkomme, möchte ich, dass es erledigt ist.“

„Die ganze weihnachtliche Deko?“ Er sieht mich an, als hätte ich ihn aufgefordert, kleine Kätzchen zu ertränken.

„Bis auf die letzte Tannennadel.“

Ich nehme die Key-Card an mich, die bereits auf dem Tresen liegt. Im Weggehen wird mir bewusst, dass ich mich hier noch gar nicht auskenne.

„Wo finde ich die Bar?“

„Zu dieser Tageszeit ist nur die Poolbar geöffnet.“ Er zeigt auf einen Wegweiser an der gegenüberliegenden Wand.

Na super. Noch trage ich ein Longsleeve, Jeans und gefütterte Boots. Damit soll ich mich jetzt in den beheizten Poolbereich setzen?

Statt besser, wird dieser Tag immer schlimmer.

Eigentlich habe ich mich auf eine gut klimatisierte Bar im Inneren des Hotels gefreut.

Egal. Nach diesem ganzen Desaster brauche ich einen Drink!

Sobald mein Zimmer von jeglichem Schnickschnack befreit ist, kann ich es mir dort gemütlich machen.

Duschen, etwas Bequemes anziehen und mich von dem nervigen Flug erholen. Klingt nach einem sehr guten Plan.


 

4 Benehmen ist Glücksache - Julian

Im Sommer gehört der Bereich, den ich gerade betrete, wohl zu den Außenanlagen des Hotels.

Um den Gästen jederzeit angenehme Bademöglichkeiten zu bieten, hat man einen Teil der Fläche überdacht und mit versenkbaren Glaswänden versehen.

Überwältigt bleibe ich stehen, um mir das weitläufig angelegte Areal genauer anzusehen.

Es gibt eine Poollandschaft, ein Extrabecken für die Wasserrutsche und eine Bar. Großzügige Flächen mit Liegen, die sehr bequem aussehen, dazu Sitzgruppen an denen anscheinend auch kleine Snacks serviert werden.

Jeder Bereich wird durch zahlreiche, passend bepflanzte Rollcontainer aufgelockert.

Mal sind sie mit Gittern ausgestattet, an denen die Pflanzen emporranken und dadurch als Sichtschutz fungieren. Andere enthalten üppig wachsende, bunt blühende niedrige Büsche.

Am meisten erstaunen mich die bis zum Glasdach reichenden Palmen.

Dabei entdecke ich, dass an den Metallstreben über den Liegeflächen zahlreiche UV-Strahler angebracht sind. Dadurch kann man selbst bei schlechtem Wetter braun werden.

Es ist verdammt voll hier.

Gäste in Badekleidung planschen in den großen Becken oder lümmeln faul auf den Liegen herum.

Die tropische Wärme, die mir beim Eintreten bereits den Schweiß aus den Poren getrieben hat, weist mich nachdrücklich auf mein völlig unangebrachtes Outfit hin.

Egal! Einen Drink lang werde ich es schon aushalten.

Die Bar befindet sich linker Hand und während ich auf einen der freien Hocker klettere, greife ich bereits nach der Getränkekarte.

„Guten Tag, Sir. Haben Sie schon gewählt?“

„Meine linke Pobacke hat den Sitz noch nicht berührt. Wie kann ich da gewählt haben?“, brummle ich unwirsch.

Ich hebe den Blick, um die übereifrige Bedienung in Augenschein zu nehmen.

Eigentlich sollte man meinen, in diesem Hotel könnte mich nichts mehr schocken. Irrtum!

Der Bartender, der, wie ich zugeben muss, eine sehr verführerische dunkle Stimme besitzt, trägt eine Santa-Weste mit passender Mütze.

Die Weste aus rotem Samt liegt eng an seinem verboten gut geformten Körper und reicht leicht über die schmalen Hüften. Der breite schwarze Gürtel mit goldener Schnalle betont seine Taille und damit die V-Form seines Oberkörpers.

Alle Ränder sind mit flauschigem weißen Plüsch besetzt, wobei die Armausschnitte meinen Blick magisch anziehen.

Falsch! Es sind seine muskulösen Arme. Die bronzefarbene glatte Haut lässt meine Fingerspitzen unruhig kribbeln.

An seinem rechten Oberarm entdecke ich ein Tattoo. Das Lederband mit einem indianisch anmutenden Amulett wirkt durch die 3D Tätowierung täuschend echt.

Eigentlich bin ich nicht so der Tattoo-Liebhaber.

Meinen Körper würde ich für kein Geld der Welt mit einer in Farbe getränkten Nadel bearbeiten lassen. Allein der Gedanke, was dabei alles passieren kann, lässt mich schaudern.

Was, wenn der Tätowierer falsche Stiche setzt oder die Haut sich entzündet? Bei Google würde man garantiert die schlimmsten Bilder finden.

„Kein Problem. Wählen Sie in Ruhe. Ich bin hier.“

Das wissende Lächeln, mit dem er mich bedenkt, treibt mir die Schamröte ins Gesicht.

„Danke“, nuschele ich und stecke meine Nase schnell in die Karte.

Nach einer Weile habe ich mich wieder gefangen und lege sie beiseite.

„Wissen Sie was?“ Entschlossen sehe ich dem Mann direkt in die Augen.

Okay, ich nehme den Umweg über das Stück Haut, das durch den Ausschnitt der Weste zu sehen ist.

Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass diese Stelle genauso samtig und verlockend aussieht, wie die Haut an seinen Armen.

Der Bartender hebt eine Braue und signalisiert, dass ich seine ganze Aufmerksamkeit habe.

Meine Bestellung muss warten.

Haben mich seine Haut und die Muskeln schon kurzfristig abgelenkt, gelingt es diesem markanten Gesicht mit den dunkelbraunen Augen noch effektiver.

Wow! Es hört sich vielleicht blöd an, aber dieser Mann ist eine echte Schönheit.

Ich schlucke hart und räuspere mich, ehe meine Stimme mir gehorcht.

„Mixen Sie mir einfach etwas. Möglichst stark. Aber tun sie mir den Gefallen und garnieren Sie es auf keinen Fall … ich wiederhole … auf keinen Fall mit irgendetwas, das auch nur annähernd nach Weihnachten aussieht, duftet oder schmeckt.“

Ich ziehe die Stirn kraus.

Versucht dieser Kerl gerade, sich ein Lachen zu verkneifen? Das wäre ein echter Affront!

Ach egal, was geht mich dieser Typ an?

Soll er ruhig lachen.

Ich werde meinen Drink genießen und dann in meinem Zimmer verschwinden.

Die Zeit, die ich hier vertrödle, dürfte dem Personal ja wohl reichen, um allen weihnachtlichen Schnickschnack zu entfernen.

„So, bitte sehr. Einmal Strong Special ohne den geringsten Hauch von Weihnachten.“

Der Barmann legt eine kleine Serviette auf den Tresen und stellt einen Tumbler, gefüllt mit einer bräunlichen Flüssigkeit darauf ab.

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, geht er ein paar Schritte zur Seite und wendet sich einem neuen Gast zu.

„Danke“, rufe ich ihm nach. „Brauchen Sie meine Schlüsselkarte nicht, um den Drink auf meine Rechnung zu setzen?“

„Der geht aufs Haus. Nehmen Sie ihn als Begrüßungsgetränk.“

„Na dann … noch mal danke.“ Ich hebe das Glas und will gerade zum ersten Schluck ansetzen, als hinter mir ein Kind freudig ausruft: „Da ist Santa!“

Ich gucke mich um und tatsächlich, trotz der sommerlichen Temperaturen steht da ein Mann in vollständigem Santa-Kostüm, umringt von kleinen Kindern mit ihren Eltern.

Mein Gott, die lassen hier aber auch gar nichts aus.

Auf diesen erneuten Schock setze ich das Glas an die Lippen und trinke es in einem Zug aus.

Keine gute Idee, wie ich Sekunden später spüre.

Es fühlt sich an, als würde die Flüssigkeit auf ihrem Weg durch meine Kehle alles verätzen.

Tränen schießen mir aus den Augen und ich kann nicht mehr atmen.

„Alles gut?“ Besorgt erklingt die sonore Stimme von jenseits der Theke.

„Ja“, krächze ich und schnappe mühsam nach Luft. „Alles bestens!“

Mit einer Hand umklammere ich das Glas, mit der anderen halte ich mich am Tresen fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Fuck …! Ich bin doch noch viel zu jung zum Sterben.

Wenn ich schon draufgehen muss, dann bitte nicht in diesem Weihnachtswunderland. Da habe ich echt Besseres verdient.

„Hier, trinken Sie!“ Der Bartender scheint direkt neben mir zu stehen.

Sehen kann ich nichts. Wahrscheinlich bin ich jetzt blind.

Was der schillernden Weihnachtsdeko nicht gelungen ist, hat dieser Drink erledigt.

Mir wird das Glas aus der Hand genommen und ein neues hineingedrückt.

„Trinken!“, fordert die Stimme im Befehlston.

Soll ich das wirklich tun? Was, wenn der Typ mir jetzt den Rest geben will?

Nein, das wird er sich nicht trauen! Schon gar nicht vor den Kindern.

Was solls? Ich bekomme zwar wieder Luft, aber dafür setzt ein quälender Hustenreiz ein.

Mutig nehme ich einen Schluck, dann noch einen.

„Ist das Tomatensaft? Ich hasse Tomatensaft“, ringe ich mir mühevoll ab.

„Alles andere hätte mich auch gewundert“, brummt der Bartender leise, aber nicht leise genug, um nicht von mir gehört zu werden.

„Sie machen mir ja Spaß“, echauffiere ich mich.

Oh, das Kratzen hat fast aufgehört. Wie angenehm. Die Erleichterung motiviert mich dazu, meine Schimpftriade fortzusetzen.

„Erst versuchen Sie, mich umzubringen und nun werden Sie auch noch frech.“ Ich setze das Glas ab und wische mir über die Augen.

Gott sei Dank, ich bin nicht erblindet.

Dass ich glasklar erkennen kann, wie eng die Jeans des neben mir stehenden Mannes seine Oberschenkel umspannt, ist Beweis genug dafür.

„Sie haben den extra starken Drink bestellt, schon vergessen? Ich habe Ihnen das Gewünschte serviert. Sie sehen alt genug aus, um eigene Entscheidungen zu treffen.“ Der Bartender verzieht sich wieder hinter die Theke.

„Wollen Sie damit sagen, ich sehe alt aus?“, schnaube ich entrüstet. „Toller Service! Gehen Sie davon aus, dass Sie kein Trinkgeld bekommen.“

„Von Ihnen würde ich auch keines annehmen“, entgegnet der Mann kühl und will mich anscheinend ignorieren. Jedenfalls dreht er mir demonstrativ den Rücken zu und poliert Gläser.

Statt mich weiter so furchtbar zu benehmen, sollte ich mich lieber auf mein Zimmer verkrümeln.

Eigentlich bin ich ein friedliebender Mensch. Streitgesprächen gehe ich meist aus dem Weg. Selbst bei Provokationen dauert es lange, ehe ich mich zur Wehr setze.

Dieses Fiasko kann ich mir nur so erklären, dass die musikalische Dauerberieselung, der Schock über das Hotel und der Jetlag mich unberechenbar machen.

Um mich nicht noch weiter schlecht zu benehmen, stehe ich auf, murmle eine Verabschiedung, und gehe zurück in die Lobby. Dort habe ich vorhin mehrere Aufzüge gesehen, die mich in meine Etage bringen können.

„Ah, Mister Linden!“ Torry eilt mit einem breiten Lächeln im Gesicht herbei.

„Lindner“, korrigiere ich ihn automatisch.

„Natürlich.“ Er nickt eifrig. „Ich wollte Sie gerade suchen. Ihr Zimmer ist fertig und ich habe mir erlaubt, Ihr Gepäck nach oben bringen zu lassen.“

Wie ein Golden Retriever, der auf sein Lob für ein braves Sitz wartet, blickt Torry mich an.

„Ich hoffe, es befindet sich wirklich keine einzige Tannennadel mehr im Zimmer.“

Zweifelnd verziehe ich den Mund und drehe mich auf den Absätzen um, in Richtung Aufzüge. Den übereifrigen Torry lasse ich einfach stehen.

~*~

Einmal tief durchatmen, dann halte ich die Key-Card vor den Türöffner.

Nach wenigen Schritten, die mich durch eine kleine Diele in ein geräumiges Zimmer bringen, bleibe ich überrascht stehen.

Statt der sonst in Hotels üblichen Teppichböden in grauenhaften Farben, empfängt mich hier ein heller Holzfußboden, der dem Ganzen einen heimeligen Touch verleiht.

Das Queen-Size-Bett steht seitlich zu einer riesigen Fensterfront, vor der zwei Rattansessel mit dicken Polstern arrangiert sind.

Ich durchquere den Raum, öffne die breite Schiebetür und trete auf den Balkon.

Meerblick! Mein Zimmer hat Meerblick!

Das Wetter meint es heute ungewöhnlich gut. Die Sonne scheint, der Himmel ist durchgehend blau und nur wenige Wolken ziehen langsam dahin. Der leichte Wind trägt den salzigen Geruch des Ozeans zu mir herauf.

Ja, so kann man es aushalten.

Gegen die tropischen Temperaturen des Poolbereichs ist das hier eine echte Wohltat.

Ich setze mich auf einen der Holzstühle. Sie haben die Höhe von Barhockern und ermöglichen einen uneingeschränkten Blick über das Balkongeländer.

Man sieht weitläufige Rasenflächen, unterbrochen von schmalen Kieswegen, an denen Bänke zum Ausruhen einladen. Rankbögen überdachen jede einzelne. Runde Blumenbeete unterbrechen mit bunten Farbtupfern das ansonsten einheitliche Grün.

Das weitläufige Gelände ist von einem hohen Zaun umgeben. Wohl aus Sicherheitsgründen, da es direkt an der Steilküste zum Pazifik endet.

Einen Moment genieße ich die Ruhe und lausche auf das Rauschen des Meeres, ehe ich ins Zimmer zurückkehre.

Vereinzelte Sonnenstrahlen fallen auf die blütenweißen Bezüge des Bettes, bringen sie regelrecht zum Leuchten. Dadurch bilden sie einen wunderbaren Kontrast zu der mit dunklem Holz vertäfelten Kopfwand.

Der Rest des Zimmers ist in sanften und teilweise kräftigen Blautönen gehalten, die sich auch in den weiteren Möbelstücken wiederfinden.

Das Ganze vermittelt einen maritimen Touch, ohne kitschig zu wirken.

Der Innenarchitekt hat bei der Einrichtung des Hotels einen sehr guten Geschmack bewiesen. Leider kommt der in der Lobby durch die völlig übertriebene Weihnachtsdeko nicht zur Geltung.

Gespannt öffne ich die Tür zum Bad.

Wow! Das ist mal wirklich wow! Weißer Marmor überall.

Eine geräumige, ebenerdige Dusche, zwei Waschbecken, deren braune Schalen in einem robusten Holzschrank versenkt sind. Alles wirkt edel und elegant.

Zu jeder anderen Jahreszeit würde ich mich hier sehr wohl fühlen.

Okay, es wäre sogar genial, wenn auch das Personal der gehobenen Hotelklasse entsprechen würde. Da hat man anscheinend gespart, und das Geld lieber in die Ausstattung investiert.

So, genug herumgetrödelt.

Ich packe rasch meinen Koffer aus und lege mir frische Wäsche parat.

Eine Dusche habe ich jetzt bitter nötig, da mir meine Klamotten unangenehm am Körper kleben.

Anschließend lege ich mich für eine kurze Ruhepause ins Bett. Der Timer meines Handys wird mich in einer Stunde wecken.

... manchmal birgt Winteridylle eine zweite Chance


Klappentext:

Fressen Bären vor dem Winterschlaf wirklich einen Wanderer?

 

Um allem zu entfliehen, was mit dem verlogenen Fest der Liebe zu tun hat, bucht Julian Lindner einen Aufenthalt im kalifornischen Half Moon Bay.

Ein Gay-Hotel mit Party, aber ohne Weihnachtsdekorationen erscheint ihm genau das Richtige, nur leider entpuppt sich die Information seines Kumpels aus Deutschland als alt.

Ein Familienhotel, das vor weihnachtlicher Dekoration nur so strotzt, bringt Julians schlechteste Seiten zum Vorschein und er ist bereit, wieder abzureisen, als er ein ungewöhnliches Angebot erhält.

~~~

Sky Cloudwater, der Aushilfsdienst an der Poolbar des Hotels macht, trifft auf den mürrischen, ungehobelten Gast aus Deutschland, der unter seiner miserablen Laune viel Kummer und Traurigkeit zu verbergen scheint.

Fasziniert von ihm macht er ein Angebot, das er hoffentlich nicht bereuen wird: Er will Julian über die Feiertage mit zu seinem Grandpa nehmen, der in verschneiter Idylle fernab von Weihnachtsrummel und lauten Mitmenschen lebt.

Wird sich die Laune des anziehenden Mannes dadurch verbessern, oder ist dies die schlechteste Idee, die Sky jemals hatte? 

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[Leseprobe] - Lucky in Chains

 

Heute ist mein neunzehnter Geburtstag und ich habe mich darauf gefreut, lange zu schlafen und einfach nur rumzugammeln. Wie es mit solchen Vorhaben aber meist läuft – sie gehen in die Hose.

Am Himmel zeigen sich gerade die ersten hellen Streifen des heraufziehenden Morgens, als ich mich bereits unruhig im Bett herumwälze.

Verhasste Gefühle lassen mich nicht mehr schlafen. Meine Vergangenheit, die unsichere Zukunft, alles dreht sich wild im Kreis, gönnt mir keine ruhige Minute mehr.

Zur Ablenkung schalte ich den Fernseher ein. Mit einem Becher Kaffee und meiner letzten Scheibe Brot krieche ich wieder unter die warme Bettdecke.

Die über den Bildschirm flackernden Daily Soaps sollen eigentlich für Zerstreuung sorgen, machen mich aber nur wütend. Wie kann man sich als halbwegs intelligenter Mensch regelmäßig solch einen unrealistischen Scheiß angucken?

Den ganzen Vormittag zappe ich durch die Sender, finde hin und wieder eine Tierdoku, bei der ich hängen bleibe. Darauf konzentrieren kann ich mich allerdings nicht, weil es in meinem Unterbewusstsein weiterhin brodelt.

Geburtstag!

Alle Welt macht ein wahnsinniges Geschiss darum. Ich habe diesen Tag nie gefeiert.

Warum auch? Das einzig Gute bestand bisher darin, der Volljährigkeit ein Stück näher zu kommen.

Allerdings mache ich mir jedes Jahr selbst ein Geschenk. Ich bediene keine Freier. Von diesem Grundsatz weiche ich nicht ab. Niemals!

Am Spätnachmittag habe ich die Schnauze voll.

Vom Grübeln, dem ätzenden Fernsehprogramm, eigentlich von allem. Zusätzlich rebelliert mein Magen, meldet lautstark, dass er gefälligst mit anständiger Nahrung gefüllt werden will.

Aus meinem Kleiderschrank krame ich weite, schlabberige Klamotten hervor. Ich will nicht mit den aufreizend engen, tiefsitzenden Jeans und kurzen Shirts auf die Straße. Das ist Arbeitskleidung und auf Diskussionen mit potenziellen Kunden verspüre ich keinen Bock.

Mein strohblondes Haar stopfe ich, so gut es geht, unter ein Basecap und ziehe den Schirm tief ins Gesicht. Auf diese Weise will ich meine kobaltblauen Augen verbergen.

Als ich anfing, auf den Strich zu gehen, habe ich schnell begriffen, das schwule Kerle mein auffälliges Aussehen total antörnend finden. Zwar bin ich nicht mehr so schlaksig und ungelenk wie mit sechzehn, aber immer noch extrem schlank. Selbst mein Gesicht weist bisher keine markanten männlichen Züge auf.

Fünfzehn Minuten Fußweg von meiner Wohnung entfernt gibt es ein preiswertes Restaurant. Das Essen ist saulecker und dort verkehren nur normale Leute.

Da ich häufig hier esse, schenkt mir der Besitzer ein strahlendes Lächeln, als ich den Laden betrete.

„Wie immer?“, fragt er.

„Japp, und gib mir ein großes Bier.“

Nach zwei weiteren kühlen Blonden serviert er mir ein riesiges Steak mit Pommes und Salat.

So laut mein Magen vorher nach Nahrung gebrüllt hat, als der Teller vor mir steht, ist der Hunger wie weggeblasen. Wenige Bissen genügen und sie liegen mir wie ein Stein im Magen.

Ein dicker Kloß blockiert meine Kehle.

Nur Bier kann dieses Hindernis überwinden und davon gönne ich mir noch ein paar.

~*~

Die Hände tief in den Taschen meiner ausgeblichenen, schlabberigen Jeans vergraben, stromere ich nach dem Essen gedankenverloren durch die Straßen.

Dämmerung breitet ihr graues Tuch über die Stadt. In diesem Viertel interessiert es jedoch niemanden. Hier erwacht das Leben gerade erst.

Eine grell beleuchtete Bar reiht sich an die nächste. Verrufene Kneipen öffnen ihre Tore und verschlingen ein Publikum, dem man im Hellen geflissentlich aus dem Weg gehen würde.

Spärlich bekleidete, viel zu stark geschminkte Frauen stolzieren mit wiegenden Hüften durch ihr Revier.

Gutaussehende junge Männer in aufreizend engen Hosen und kurzen Tanktops gehen ebenfalls ihrem eindeutigen Gewerbe nach.

Erst als ich mehrfach angerempelt werde, wird mir klar, wo ich mich befinde. Meine Füße haben mich in das obligatorische Stricherviertel getragen.

Missmutig verziehe ich den Mund.

Tja, da haben wir es wieder.

Ich grüble ständig darüber, welcher Komiker mir den Namen Lucky verpasst hat. An glückliche Zeiten erinnere ich mich nicht, und dass ich hier gelandet bin, spricht auch nicht gerade für meinen Namen.

Verdammt! Heute wollte ich ganz bestimmt nicht hierher, aber gut, machen wir das Beste daraus.

Vor der Tür meiner Stammkneipe bleibe ich stehen und atme tief durch.

Beim Betreten des Lokals vermeide ich jeglichen Augenkontakt und suche mir, möglichst weit weg von den anderen Gästen, einen Platz an der Theke.

Keine Freier heute!

Das steht so fest, wie das Amen in der Kirche.

Spricht mich jemand an, reagiere ich nicht oder knurre böse.

Potenzielle Kunden habe ich so erfolgreich vertrieben und selbst Stricher, mit denen ich schon mal quatsche, halten sich mittlerweile von mir fern. Selbst der Wirt wagt nicht mehr, mich in eine unserer üblichen Unterhaltungen zu verwickeln.

Die irritierten Blicke übersehe ich geflissentlich.

Mürrisch starre ich auf das Glas zwischen meinen Händen. Kampftrinken ist das Motto für den heutigen Abend. Kaum ist mein Glas geleert, genügt ein Handzeichen, schon steht ein frisch gefülltes vor mir.

Irgendetwas ist heute anders als an meinen vergangenen Geburtstagen.

Früher hat dieser Tag die Wut auf meine Erzeuger geschürt. Den Zorn darüber, dass sie mich so einem beschissenen Leben übergeben haben. Jetzt fluten nur schmerzliche Erinnerungen mein Hirn.

Zum ersten Mal wird mir knallhart bewusst, dass man mich einfach entsorgt hat.

Wie Abfall.

Einen Haufen stinkenden Müll.

Etwas völlig Wertloses und Unnützes.

Es wäre humaner gewesen, mich, das unerwünschte Wesen, einfach abzutreiben. Damit hätte mir die Frau, die mich in diese triste Welt geworfen hat, eine Menge Scheiße erspart.

Während ich verinnerliche, wie viele verschissene Lebensjahre noch vor mir liegen, rebelliert mein Magen. Mir wird übel.

Nur der Umstand, dass die Kneipe voller Gäste ist, hält mich davon ab, über die Theke zu kotzen oder in Tränen auszubrechen.

Verdammt, Lucky, reiß dich zusammen. Hör auf, über diesen Scheiß nachzudenken, du kannst es eh nicht ändern.

~*~

Kühle Luft weht herein, als sich die Kneipentür öffnet und jemand das Lokal betritt. Der kalte Hauch beschert mir eine Gänsehaut.

Dicht neben mir spüre ich eine Bewegung.

Na prima! Kann dieser Tag wirklich noch beschissener werden?

Ich richte mich kerzengerade auf, hoffe, dass meine Körperhaltung genug Unnahbarkeit und Abwehr ausstrahlt, um den neuen Gast davon abzuhalten, mir auf den Sack zu gehen.

„Gib mir ein Bier.“

Ein Schauer kriecht über meine Haut.

Diese Stimme!

Tief. Samtenes Timbre.

Die Härchen an meinen Unterarmen richten sich auf, als würde mich jemand streicheln.

Verdammt! Wie kann eine Stimme mit einem dermaßen profanen Satz nur so viel unterschwellige Erotik ausstrahlen?

Der rauchige Klang dringt mir in sämtliche Poren, lässt mein Blut schneller fließen. Vibrierend legt er sich in meinen Nacken, rieselt langsam die Wirbelsäule hinunter.

Ich wehre mich vehement gegen meine Reaktionen. Weigere mich strikt, der drängenden Neugier nachzugeben, den Kopf zu heben und meinen Nachbarn zu mustern.

Keine Freier!

Als der Wirt das Gewünschte vor dem Gast abstellt, ertönt die Stimme erneut.

„Mach dem Zwerg auch eins.“

Zwerg? Hallo! Was soll der Scheiß?

Immerhin messe ich 1,80 Meter und die fallen mit Sicherheit nicht unter Zwergengröße.

Ärgerlich presse ich die Lippen aufeinander, um nicht unbedacht einen blöden Spruch loszulassen.

So ein arroganter Arsch. Auf solche Wichser kann ich gar nicht. Automatisch schließen sich meine Finger fester um mein Glas, das ich bisher in den Händen gedreht habe.

„Den lass lieber in Ruhe. Lucky ist heute nicht gut drauf“, entgegnet der Wirt.

„Man sollte meinen, jemand mit solch einem Namen wäre ständig gut gelaunt.“

Ich spüre, wie der Sprecher sich mir zuwendet. Seine Blicke hinterlassen eine brennende Spur auf meiner Haut. Es kostet mich sämtliche Willenskraft, meinen Kopf nicht in Richtung des Mannes zu drehen.

„Leck mich!“, fauche ich stattdessen.

„Oh, ein rebellischer Zwerg. Komm schon, gib dir einen Ruck. Trink etwas mit mir. Allein schmeckt es mir nicht.“

Verdammt! Die Stimme säuselt, schnurrt, macht mich irre.

Heute ist echt ein beschissener Tag.

Laufend passieren Dinge, die mich aus der Bahn werfen.

Ich wehre mich gegen die Verlockung, fechte einen inneren Kampf, aber meine Neugier siegt. Den Kopf heben, stur geradeaus in die verspiegelte Front hinter der Theke starren, ist eins.

Hätte ich das bloß nicht getan!

Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich wie einen Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappen.

Der Mann überragt mich um mindestens zehn Zentimeter. Rotbraunes, glänzendes Haar, ebenso ungebändigt wie meins, beeindruckend breite Schultern.

Lächelnd wendet er den Kopf und die Blicke unserer Spiegelbilder kreuzen sich.

Dunkle, in diesem Licht fast schwarz erscheinende Augen treffen auf mein Kobaltblau. Atemlos, gebannt starren wir uns einige endlos scheinende Sekunden an, ehe der riesige Kerl millimeterweise näher rückt. Unsere Schultern berühren sich und wir zucken beide wie unter einem Stromschlag zusammen.

In Zeitlupe drehe ich mich um. Dicht stehen wir einander gegenüber. Erneut kreuzen sich unsere Blicke.

Millionen von Ameisen krabbeln über meine Haut. Das Blut rauscht wild durch meine Adern, in den Ohren dröhnt mein aus dem Takt geratener Herzschlag.

Der Mann ist … ja, anders kann man es nicht ausdrücken … er ist einfach zu schön, um wahr zu sein.

Ein ebenmäßiges Gesicht. Volle Lippen, die zum Küssen einladen. Der leichte Bartschatten bedeckt seine Wangen und das markante Kinn.

Wie in Trance gleitet meine Hand unter die offenstehende Jacke, schiebt sie zur Seite. Meine Finger graben sich in seine Hüfte, ziehen ihn näher heran. Nachgiebig folgt sein beeindruckender Körper dieser Aufforderung. Kein Blatt passt jetzt mehr zwischen uns.

Aufreizend reibe ich mich an ihm, lege den Kopf in den Nacken, betrachte weiter sein Gesicht. Fasziniert sehe ich, wie seine Augen noch eine Nuance dunkler werden.

„Wie heißt du?“, frage ich heiser.

Mein Atem streift dabei seine weich aussehenden Lippen. Bereitwillig öffnen sie sich, saugen tief die Luft ein.

„Dave. Mein Name ist Dave, kleiner Lucky. Und du gehörst ab sofort mir.“

BAM!

Als wäre neben mir eine Bombe explodiert, so laut erscheint der Knall, mit dem ich in der Realität aufschlage.

Abfällig schnaubend versetze ich dem Kerl einen heftigen Stoß, so dass er zwei Schritte rückwärts taumelt.

„Vergiss es! Ich gehöre nur mir und für einen Zuhälter arbeite ich mit Sicherheit nicht“, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und wende mich meinem Bier zu.

Die anfängliche Faszination ist verflogen, zurück bleibt leichtes Bedauern.

Ich brauche niemanden, der meine sauer verdiente Kohle konfisziert. Erst recht keinen Scheißkerl, der mir die Fresse poliert, wenn die Kasse nicht hoch genug ist.

„Ich bin ganz sicher kein Zuhälter. Wir sollten uns unterhalten, dabei erfährst du auch, was ich beruflich mache. Was hältst du davon?“

„Hau ab! Lass mich in Ruhe! Ich bediene heute keine Freier.“

Ich nehme mein Glas und verziehe mich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals.

Auf dem Weg dort hin, starren mich die Gäste an. Manche belustigt, andere süffisant grinsend. Zwei Stricher, die ich flüchtig kenne, erheben sich umgehend und streben Richtung Theke.

Genau, sollen die sich mit dem arroganten Spinner beschäftigen. Für mich ist das Thema durch.

~*~

Habe ich geglaubt, den Kerl durch meinen Abgang zu verscheuchen, werde ich schnell eines Besseren belehrt.

Kaum zwei Minuten später wabert sein betörender Duft um mich herum.

Ehe Dave sich auf dem Stuhl mir gegenüber niederlässt, zupft er mir mit einer blitzschnellen Bewegung das Basecap vom Kopf.

Wutentbrannt hebe ich den Blick, sehe, wie seine dunklen Augen mich intensiv mustern.

„Na, sieh einer an, was da zum Vorschein kommt! Warum verbirgst du deine ungewöhnlichen Reize unter dieser blöden Kappe? Dazu deine furchtbare Kleidung. So kannst du aber nicht viele Freier anlocken.“

Hitze bringt meine Wangen zum Glühen. Zu meiner Wut über seine Aufdringlichkeit gesellt sich Scham wegen meines abgerissenen Äußeren. Ich senke den Kopf.

„Das ist Absicht. Ich will heute keine Freier bedienen und nur so kann ich sie mir einigermaßen vom Leib halten. Geh zurück an die Theke. Einer der Jungs bedient dich gerne. Wenn du genug zahlst, kannst du sogar beide haben. Ihre Klamotten entsprechen wohl eher deinen Ansprüchen“, murmle ich.

„Die interessieren mich nicht. Sag mir lieber, warum du ständig betonst, dass du heute nicht arbeiten willst?“

„Das geht dich nichts an. Ich will nicht. Basta! Hau endlich ab und lass mich in Ruhe.“

Auch wenn ich mehr zur Tischplatte spreche, bin ich froh, meine Stimme wieder im Griff zu haben, um meine Worte energisch und abweisend klingen zu lassen.

Ich muss den Kerl unbedingt loswerden. Seine Fragen wühlen mich nur weiter auf, bringen die ganzen blöden Gedanken und Gefühle, die mich schon den ganzen Tag verfolgen, zu sehr an die Oberfläche.

Scheiße, was ist bloß mit mir los? Nervös fahre ich mir mit beiden Händen durchs Haar.

„Komm schon, Lucky. Erzähl es mir. Du machst mich immer neugieriger.“

Dave beugt sich über den Tisch, greift an mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Die über dem Tisch befindliche Lampe leuchtet sein Gesicht aus. Seine Augen haben, wie ich jetzt erkennen kann, die Farbe bitterer Schokolade.

Aus ihnen strahlen mir Mitgefühl und ehrliches Interesse entgegen. Ein freundliches Lächeln kräuselt seine Lippen.

Mein Herz setzt ein paar Takte aus, schlägt danach aufgeregt weiter, will mich dazu bringen, ihm zu vertrauen.

Was ist mit meinem Schwur, auf solche Anzeichen nie wieder hereinzufallen? Schließlich habe ich als kleines Kind schon gelernt, dass Freundlichkeit und Verständnis nur so lange vorgespielt werden, bis der andere erreicht hat, was er will.

Dieser Kerl kratzt jedoch mit seinem Verhalten an meinem Panzer, hat bereits tiefe Risse und Löcher verursacht.

Ausgerechnet heute bin ich nicht in der Lage, mich gegen solche Angriffe zu schützen.

Wo sind die verdammte Wut und der Starrsinn, wenn man sie braucht?

Kunden sorgen sich nicht um einen Stricher.

Warum jetzt dieser Typ?

Ausgerechnet einer, der mir gefährlich unter die Haut geht.

Meine Abwehr bricht zusammen, mein Blick verschwimmt.

Ich blinzle, will die massiv heraufdrängenden Tränen vertreiben. Es gelingt mir nicht ganz, einige Tropfen finden den Weg über meine Wangen.

„Schluss jetzt! Du brauchst Ruhe. Ich zahle, danach fahren wir zu mir. Dort wirst du mir sagen, was los ist. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Die rauchige Stimme, der fordernde Klang, die Hilfsbereitschaft, alles lässt mich schaudern.

Mein Kopf ist wie leergefegt.

Ohne weiter nachzudenken, erhebe ich mich. Mit müder Geste wische ich die nassen Spuren von meinem Gesicht und folge Dave.

Er begleicht beide Rechnungen beim Wirt. Meinen halbherzigen Protest stoppt er mit einer energischen Handbewegung. Gemeinsam verlassen wir das Lokal.