1 Weihnachtswahnsinn - Julian
„Vielen Dank. Es freut mich, dass
wir den Fall noch im alten Jahr zu unserer beiderseitigen Zufriedenheit klären
konnten. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein gesegnetes Weihnachtsfest.“
Erleichtert drücke ich auf die Beenden-Taste
der Telefonanlage und ziehe das Headset vom Kopf. Damit es nach den Feiertagen
wieder voll einsatzfähig ist, stelle ich es ordentlich in die Ladestation.
Endlich Feierabend, aber nicht
nur das.
Ich habe Urlaub!
Wie im Dezember üblich, sind die
letzten Wochen extrem stressig gewesen.
Bedingt durch meinen Beruf als
Buchhalter ist es speziell zum Jahresende hin immer etwas hektisch.
Unklare Fälle warten auf
Erledigung, vorbereitende Arbeiten für den Jahresabschluss stehen an und die
Bonusabrechnungen müssen bis Ende März erstellt sein.
Normalerweise herrscht in dieser
Zeit absolute Urlaubssperre.
Meine tollen Kollegen haben
allerdings dafür gesorgt, dass unser oberster Chef mir zähneknirschend vierzehn
freie Tage gewährt hat.
Seit Jahren habe ich die Arbeiten
der Kollegen mit Kindern übernommen, damit sie wenigstens zwischen den
Feiertagen frei bekommen.
Jetzt revanchieren sie sich für
meine Hilfsbereitschaft, wofür ich ihnen sehr dankbar bin.
Mehr als mein Job nerven mich in
diesem Jahr jedoch die gehetzt wirkenden Menschen.
Egal ob während der Mittagspause
oder nach Feierabend, ständig laufen einem gestresste und extrem unfreundliche Leute
über den Weg.
Jeder ist auf der Suche nach dem
ultimativen Geschenk für Tante Erna, Onkel Jupp, Oma Gerti, die lieben Geschwister
oder wen-auch-immer man bedenken muss.
Seitdem ich ins Berufsleben
eingestiegen bin, habe ich mich ebenfalls alle Jahre wieder in diesen
Weihnachtswahnsinn gestürzt.
Tagelangen Überlegungen, wem man
was schenken könnte, folgten unzählige Stunden in überfüllten Geschäften.
Als wäre es nicht schon genug, sich
durch das Geschiebe und Geschubse zu drängeln, wird man zusätzlich aus jedem
einzelnen Lautsprecher mit nerviger Weihnachtsmusik beschallt.
In diesem Jahr wird es auf jeden
Fall anders laufen!
Ich steige aus dem Hamsterrad aus
und morgen bin ich auf dem Weg nach Half Moon Bay in Kalifornien.
Bernie, ein sehr guter Freund,
hat mir diesen Trip schmackhaft gemacht. Er hat in den höchsten Tönen von dem Gay-Hotel
geschwärmt.
Wahnsinnig gutaussehendes
männliches Personal, zahllose Single-Gäste und das für mich ausschlaggebende
Kriterium – es gibt keinerlei weihnachtliche Dekorationen in dem Haus.
„Julian, kommst du mit auf einen
Glühwein? So als Einstimmung auf deinen Urlaub?“ Manfreds Stimme reißt mich aus
meinen Gedanken.
Auch wenn ich sonst kein
Kostverächter bin, diesmal kann ich nicht mit.
„Sorry, nein. Heute muss ich
passen. Mein Flieger geht morgen sehr früh und ich habe noch nicht gepackt.“
Entschuldigend sehe ich ihn an, während ich meinen PC herunterfahre.
„Du ziehst das wirklich durch,
was? Flucht vor Weihnachten!“ Mit einer ausladenden Geste weist er auf die
blinkende Deko überall im Büro.
„Japp. Keine Weihnachtsgans, kein
Last Christmas und kein Geheule, dass
früher alles besinnlicher war.“ … und vor allem keine blöden Fragen von
der Familie, was mit Toni ist.
„Du Glückspilz!“, sagt Carmen
seufzend, die ebenfalls an meinen Schreibtisch tritt, während sie ihren Mantel
anzieht. „Meine Mutter jammert schon seit einer Woche, wie viel sie noch backen
und kochen muss, und meine Schwester verteilt Listen, was ihre unerzogenen
Ableger alles nicht essen dürfen.“
„Warum soll es dir besser gehen
als uns?“, bemerkt Markus, unser Bilanzbuchhalter und Büroleiter.
Es sieht so aus, als würde er
sich heute der feierwütigen Truppe anschließen.
Um meinen Schreibtisch herum wird
es immer voller.
Nach und nach treten fast alle
Kollegen aus unserem Großraumbüro heran und ich bekomme langsam Platzangst.
„Leute, ich muss echt los.“ Vorsichtig
rolle ich mit dem Stuhl zurück, um niemandem über die Füße zu fahren.
Ich stehe auf und schlüpfe in
meine dicke Daunenjacke, die seit der Mittagspause griffbereit über der
Stuhllehne hängt. Den Schal wickele ich mir achtlos um den Hals.
Bäh … diese dicken Klamotten
werde ich in der nächsten Zeit nicht brauchen.
Wo ich die Feiertage verbringe, scheint
zwar nicht unbedingt die Sonne, aber es ist keinesfalls so nasskalt wie hier.
In einem fröhlichen Durcheinander
rufen mir alle die besten Wünsche nach, während ich eilig das Büro verlasse.
~*~
„Juli, das kannst du nicht machen!“
Nina, meine geringfügig ältere
Schwester, sitzt im Schneidersitz auf meinem Bett. Aufgebracht rupft sie an
einem dicken Pullover herum, den ich achtlos dort hingeworfen habe.
„Ich kann und ich werde“, entgegne
ich stoisch zum wohl hundertsten Mal in den letzten Wochen. „Meinst du, ich
packe meinen Koffer aus Langeweile?“
„Aber Mama und Papa! Du kannst
sie doch an Weihnachten nicht allein lassen!“, jammert sie wie eine
pubertierende Fünfzehnjährige.
Seufzend verharrt meine Hand mit
den gefalteten Shorts, die ich für wärmere Tage vorsorglich mitnehme, in der
Luft. Mit schräg gelegtem Kopf sehe ich sie durchdringend an.
„Echt jetzt? Du ziehst die Arme-Eltern-Karte?
Nina, du weißt genau, in ihrem Haus wird es von Freunden und Verwandten wimmeln.
Den beiden wird überhaupt nicht auffallen, dass ich fehle.“
„Das stimmt doch gar nicht!“ Empört
bläht Nina die Wangen auf. „Ihr Nesthäkchen werden sie auf jeden Fall vermissen.“
„Nesthäkchen? So ein Schwachsinn!
Du bist gerade mal achtzehn Minuten älter als ich, und das auch nur, weil du
dich wie immer vorgedrängelt hast.“
Ich nehme meine Tätigkeit wieder
auf. Das spöttische Lachen über ihre Versuche, mich zum Bleiben zu überreden,
versuche ich gar nicht erst zu unterdrücken.
„Ich fliege, Nina. Punkt! Morgen werde
ich an der Poolbar sitzen und einen Cocktail auf dein Wohl trinken.“
„Es wird garantiert regnen“, unkt
sie mit verkniffenem Gesichtsausdruck.
Nachdem ich einen Stapel Shirts
in den Koffer gelegt habe, setze ich mich neben sie. Sanft befreie ich meinen
Pullover aus ihren Händen, lege anschließend den Arm um ihre Schultern und ziehe
sie an mich.
„Gönn es mir doch, Schwesterchen.
Schau, wir sind inzwischen zweiunddreißig und seit Kindesbeinen mache ich diesen
ganzen Rummel klaglos mit. Denkst du nicht, dass ich es verdient habe, einfach
mal etwas nur für mich zu tun?“
„Du vermisst Toni, richtig?“ Nina
hat sich an meine Brust gekuschelt und blickt nun fragend zu mir auf.
Mir entkommt ein tiefer Seufzer.
Meinen Ex …? Meinen
Arschloch-Ex?
Nina irrt sich, ich vermisse ihn
schon lange nicht mehr. Inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, dass ich vor
Wut platze, wenn ich bloß an ihn denke.
Vor sieben Monaten bin ich dahintergekommen,
dass der Mistkerl mich von Anfang an betrogen hat.
Seiner Verlogenheit habe ich zu
verdanken, dass mir der ganze Weihnachtstrubel in diesem Jahr unsäglich auf die
Nerven geht.
Das ist einer der Gründe, warum
ich den Heiligabend nicht bei meinen Eltern feiern will. Dort würde mir nur mit
aller Macht wieder vor Augen geführt, wie viele Jahre ich an dieses Arschloch
verschwendet habe.
Außerdem brauche ich Abstand von
den lieben Verwandten mit ihren dummen Fragen.
Also ab in den Flieger und neue
Eindrücke sammeln.
Geile Kerle, unverbindlicher Sex,
besseres Wetter und ein unweihnachtliches, cooles Hotel werden mir helfen, den
ganzen Rummel in den kommenden Jahren wieder lockerer wegzustecken.
„Toni ist Geschichte. Begraben
und vergessen“, erwidere ich entschieden und schiebe Nina sanft von mir, um
aufzustehen. „Den Pullover kannst du übrigens zusammenlegen, den brauche ich
nicht.“
„Mach das doch selbst, Mister-ich-will-mich-finden-und-meine-Schwester-alleine-im-Chaos-untergehen-lassen.“
Prompt fliegt der Pullover in hohem Bogen direkt in mein Gesicht.
Ich liebe meine Schwester, aber
manchmal geht mir ihr Egoismus sehr gegen den Strich. Sie hat keinen Bock, sich
den nervigen Verwandten allein zu stellen, daher stinkt es ihr, dass ich ihr diesmal
nicht helfend zur Seite stehe.
Nina krabbelt vom Bett und stapft
zur Tür. „Ich mache mir jetzt einen Kakao. Extra süß, mit Marshmallows.“
Sie hat die Tür schon hinter sich
geschlossen, als sie sie wieder öffnet und den Kopf ins Zimmer streckt. „Wann
soll ich dich morgen zum Flughafen fahren? Ich meine, falls ich jemals wieder
aus dem Zuckerkoma erwache.“
Ich lächele. „Um zwanzig nach
sieben geht mein Flieger.“
„Okay, ich stelle mir den Wecker
entsprechend. Ach, und noch was … Ich hab dich lieb.“ Sie erwidert mein
Lächeln und verschwindet.
Kurz darauf höre ich sie in der
Küche rumoren.
Ich gehe jede Wette ein, dass sie
mir gleich auch einen Becher Kakao bringt.
2 Up, up and away
- Julian
Das ist der absolute Wahnsinn!
Ich kann nicht fassen, wie viele
Leute speziell zu den Feiertagen in Urlaub fliegen.
Am Londoner Flughafen muss ich echt
kämpfen, um an den Abflugschalter meines Direktfluges nach San Francisco
heranzukommen.
Klar, ich sehe jedes Jahr in den
Nachrichten die Staus auf den Autobahnen. Alle wollen in die Berge, weil sie
nur dort die richtig tollen Skipisten finden.
Hier stehen die Menschen jedoch
Schlange, um nach Florida oder auf die Bahamas zu fliegen.
Der Krach um mich herum nimmt auch
nicht ab, als ich endlich die Kontrollen hinter mir habe und den Wartebereich betrete.
Knappe dreißig Minuten später
verstaue ich aufatmend mein Handgepäck und setze mich hin.
Der Flieger ist bis auf den
letzten Platz besetzt.
Aus den Gesprächsfetzen, die von allen
Seiten auf mich eindringen, entnehme ich, dass es sich bei den Mitreisenden großteils
um Familien handelt.
Sie nutzen die Festtage, um Verwandten
oder Freunden in den fernen Staaten ihren Nachwuchs zu präsentieren.
Jetzt wundert mich auch nicht
mehr, dass so viele Kinder an Bord sind, die den Lärmpegel von Stunde zu Stunde
steigen lassen.
Okay, ich kann die Kids
verstehen. Für die meisten scheint es der erste Flug ihres Lebens zu sein,
daher sind sie entsprechend aufgeregt. Dazu kommt die mangelnde Bewegung, und
mit Gesellschaftsspielen lassen sie sich auf Dauer auch nicht ablenken.
Unsere Flugzeit beträgt ungefähr
elf Stunden. Ich habe das Gefühl, sie zieht sich in die Länge, wie billiger
Käse auf einer Pizza.
Mein Sitznachbar verschläft fast
den ganzen Flug, was an sich sehr angenehm wäre, würde er mir nicht die ganze
Zeit rhythmisch ins Ohr schnarchen.
Selbst das Essen hebt meine Laune
nicht. Es sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus. Nach dem ersten Bissen schiebe
ich das Tablett angewidert von mir. Selbst Pappe dürfte schmackhafter sein.
Meinen knurrenden Magen mit Softdrinks
zu besänftigen, gelingt leider nur vorübergehend.
Ich würde liebend gerne ein paar
Stunden schlafen, schon damit die Zeit schneller vergeht. Die Lärmkulisse
verhindert das allerdings sehr effektiv.
So langsam liegen meine Nerven
blank.
Meinen Start in den Urlaub habe
ich mir anders vorgestellt.
Welch eine Erleichterung, als die
Stimme des Flugkapitäns verkündet, dass wir in wenigen Minuten in San
Francisco landen werden.
Im Internet habe ich mich schlau
gelesen, auf welcher Seite man in der Maschine sitzen sollte, wenn man einen
Blick auf die Golden Gate Bridge werfen
will.
Bei meiner Buchung habe ich das
entsprechend berücksichtigt.
Allerdings stand in mehreren
Foren, der Nebel wäre meist zu dicht, um sie sehen zu können.
Ich setze mich aufrecht hin und
verrenke mir den Hals.
Die Bucht ist in ihrer ganzen
Breite von einer wabernden Milchsuppe bedeckt. Nur die Berge im Hintergrund
kann man klar erkennen.
Anscheinend hat sich die ganze
Welt gegen mich verschworen.
Wütend lehne ich mich wieder in
meinen Sitz.
Nach diesem beschissenen Flug hätte
ich eigentlich ein Erfolgserlebnis verdient gehabt.
Langsam rollt die Maschine über
den Asphalt der Landebahn, bis sie endlich zum Stillstand kommt.
Geduldig warte ich das Gedränge
der Mitreisenden ab und stopfe in der Zeit die dicke Steppjacke, Schal, Mütze
und Handschuhe in meinen Rucksack.
Ziemlich als Letzter verlasse ich
den Flieger.
Jetzt noch den Koffer vom
Gepäckband holen und den Zoll durchqueren, dann habe ich es fast geschafft.
In der Ankunftshalle soll jemand
vom Hotel auf mich warten.
So ein Shuttleservice hat was.
Aber bei dem Preis, den ich für den Aufenthalt in dem Gay-Resort zahle, sollte
das auch drin sein.
An der Passkontrolle gibt es
keine Probleme. Mein Visum ist okay und den Grund meines Aufenthaltes akzeptiert
man ohne Nachfragen. Na, wenigstens etwas!
Meine lieben Arbeitskollegen
haben mir nämlich ein paar haarsträubende Schauergeschichten über die Einreise
in die USA aufgetischt.
Meine Stimmung hebt sich, je
näher ich der Ankunftshalle komme.
Fröhlich klackern die Rollen meines
Koffers über den Fliesenboden.
Wie von Zauberhand öffnen sich
die Milchglasscheiben der elektrischen Türen, die mich aus dem Zollbereich entlassen.
~*~
Suchend sehe ich mich um.
Überall stehen Menschen mit
Blumen, Ballons oder Spruchbändern. Einige haben sogar das ganze Programm
aufgefahren.
Was sie alle eint, ist die
freudige Aufregung in ihren Gesichtern.
Wie es aussieht, ist für die
meisten heute der Tag der weihnachtlichen Familienzusammenführung.
Der extrem lauten
weihnachtlichen Familienzusammenführung.
Rund um mich herum rufen, lachen
und singen die Menschen. Ernsthaft, einige singen tatsächlich.
Genervt verziehe ich das Gesicht.
Reg dich nicht auf, Julian. Gleich sitzt du in einem bequemen
Auto, das dich ins Hotel bringt.
In die himmlische Ruhe – in den
wohlverdienten Urlaub.
Endlich! Da steht jemand und hält
ein Schild mit meinem Namen hoch.
Kurz verharre ich im Schritt, als
mir die Aufmachung des Mannes bewusst wird. Irgendwie habe ich, wenn schon
nicht mit einer Livree, so doch zumindest mit einem Anzug gerechnet.
Okay, ein weißes Hemd, schwarzer
Schlips und Stoffhose hätten es auch getan. Aber gelber Turban, grüne Kurta und
weiße Hose sind nicht der Stil, den ich einem Angestellten meines Hotels
zugeschrieben hätte.
„Ich bin Julian Lindner“, teile ich
dem bunt gekleideten Mann mit.
„Ah … herzlich willkommen. Ich
nehme Ihren Koffer. Folgen Sie mir bitte“, teilt er mir in freundlich-indisch
akzentuiertem Singsang mit.
Den Koffer reißt er mir dabei
förmlich aus der Hand.
Der Mann schlängelt sich in
unglaublichem Tempo durch die Menschmassen und ich habe Mühe, ihm zu folgen. Jetzt
ist sein farbenfrohes Outfit sehr vorteilhaft. In diesem Trubel hätte ich ihn
sonst garantiert verloren.
Als ich ihn endlich einhole, sehe
ich gerade noch, wie mein Gepäck im Kofferraum einer Limousine verschwindet.
Umgehend reißt er die hintere Beifahrertür
auf und ich werde mit einladender Handbewegung und leichter Verbeugung
aufgefordert, einzusteigen.
Neugierig sehe ich aus dem
Seitenfenster, als der Wagen den Flughafen verlässt. Alles ist so neu und ungewohnt.
Dazu gehört auch die indische
Musik, die dezent aus den Lautsprechern dudelt. Okay, ich sollte dankbar sein, dass
es keine Weihnachtsmusik ist.
Sobald das verwirrende
Straßennetz der Flughafenzubringer hinter uns liegt, folgt ein Vorort nach dem
anderen.
Erscheint einem die
Weihnachtsbeleuchtung in Deutschland schon schlimm, wird man hier regelrecht
davon erschlagen.
Es gibt kein Haus, keinen
Vorgarten, keinen Baum, der nicht in kitschig-bunten Farben erstrahlt.
Überdimensionierte, aufblasbare
Schnee- oder Weihnachtsmänner sind auf den Dächern befestigt. Vor fast jedem Haus
findet sich ein beleuchteter Santa-Schlitten mit Rentieren, die gerade starten
wollen.
Die Fassaden der Kaufhäuser sind
mit Lichterketten eingefasst und in den Fenstern hängen riesige blinkende
Zuckerstangen.
Sämtliche Ortschaften sind ein
einziges Lichtermeer.
Ich mag mir gar nicht vorstellen,
wie diese farbintensiven Beleuchtungen im Dunklen aussehen.
Gott sei Dank ist in meinem Hotel
alles anders.
Laut meinen Recherchen wird die Fahrt
eine knappe Stunde dauern. Sobald die Städte hinter uns liegen, werde ich den
Ausblick auf den Pazifik genießen können.
Obwohl ich mich riesig darauf
freue, fallen mir zwischendurch immer wieder die Augen zu.
3 Glitzernder Schock - Julian
„Sir! Entschuldigen Sie, Sir. Wir
sind da.“
Orientierungslos reiße ich die
Augen auf.
Oh Mann, ich bin tatsächlich fest
eingeschlafen.
Langsam öffnet sich mein
Bewusstsein für das Bild, das sich mir bietet.
Über dem Eingang prangt in
Leuchtbuchstaben der Name des Hotels – Ocean Sea Crest.
Soweit stimmt es. Aber das ganze Drumherum …
Nein, das kann nicht mein Hotel
sein, nicht das Ocean Sea Crest, das ich gebucht habe.
Fassungslos starre ich einen
Moment aus dem Fenster, ehe ich meine Stimme wiederfinde.
„Sind Sie sicher, dass dies das
richtige Hotel ist?“, frage ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
„Ja, Sir. Das Ocean Sea Crest.“ Der
Mann nickt eifrig und ist im Begriff auszusteigen.
„Es gibt in diesem Ort kein anderes
Hotel mit dem gleichen Namen?“, hake ich sicherheitshalber nach.
„Nein, Sir, nur dieses eine. Es ist
ein sehr gutes Hotel. Sie werden einen fantastischen Aufenthalt haben“, beteuert
er, blickt mich aber verunsichert durch den Rückspiegel an.
„Das bezweifle ich sehr“, murmle
ich und steige aus.
Seufzend sehe ich mich gründlicher
um.
An dem Gebäude und in der
vorgelagerten Grünanlage gibt es nicht eine Stelle, an der keine Lichterkette platziert
oder eine Leuchtfigur aufgestellt ist.
Als wäre das nicht schlimm genug,
blitzt und blinkt auch noch alles in den kitschigsten Farben.
Angewidert wende ich mich ab. Meine
Güte, davon bekommt man ja Augenkrebs.
Mir bleibt keine Wahl, ich muss
das Hotel betreten, zumindest, wenn ich mein Gepäck zurückhaben will.
Das hat der sehr beflissene
Fahrer bereits auf einen dieser typischen Rollwagen mit den verchromten
Rundbögen-Aufsätzen geladen und verschwindet damit in der Lobby.
Ich blinzle.
Habe ich richtig gesehen? Sind
diese Rundbögen ernsthaft mit Plastiktannengirlanden und glänzenden roten
Kugeln dekoriert?
Wo bin ich hier nur hingeraten?
Kopfschüttelnd folge ich dem Mann.
Kaum setze ich einen Fuß in die
Empfangshalle, zucke ich zurück, als hätte mich jemand gebissen.
Direkt neben der Eingangstür
steht ein völlig überladener Tannenbaum.
Aus versteckten Boxen dudelt die
unvermeidliche Weihnachtsmusik. Okay, die Lautstärke ist dezent, aber für meine
Ohren trotzdem eine Strafe.
Ich haste zur Rezeption und
schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Fahrer mich doch am falschen Hotel
abgesetzt hat.
„Guten Tag, Sir. Mein Name ist
Torry. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
Mir fällt die Kinnlade herunter
und ich bekomme kein Wort heraus.
Der Rezeptionist ist jung,
unglaublich gut gebaut und eine echte Augenweide. Hemd, Krawatte und Weste,
alles mit dem Emblem des Hauses versehen, sitzen tadellos und betonen seine
gute Figur.
Was mich kurzzeitig in Schockstarre
versetzt, ist die typisch amerikanische Santa-Mütze. Er hat sie neckisch schräg
auf seinen dichten blonden Haaren drapiert.
„Sir?“ Torrys leise fragende
Stimme erinnert mich daran, warum ich hier stehe.
„Ähm … Ja … Mein Name
ist Julian Lindner. Prüfen Sie bitte, ob in Ihrem Haus wirklich eine
Reservierung für mich vorliegt.“
Bestimmt tritt gleich ein
Fernsehmoderator aus seinem Versteck, grinst mich an und fragt: „Verstehen Sie
Spaß?“
Gibt es diese Sendung eigentlich
noch?
Wenn ja, treiben sich die Leute
bestimmt nicht in Kalifornien herum.
Eifrig tippt Torry auf seiner
Tastatur herum, die vor einem für mich nicht einsehbaren Bildschirm steht.
Während ich warte, sehe ich mich
weiter um.
Selbst die Rezeption ist nicht
von Lichterketten und Tannengirlanden verschont geblieben.
Die Lobby ist sehr elegant und
luxuriös ausgestattet, soweit man es unter der erschlagenden Deko erkennen kann.
Was mich bei dem regen Publikumsverkehr
irritiert, ist das bunt gemischte Völkchen. Familien mit Kindern, junge Paare und
ältere Semester sind vertreten. Was ich allerdings gar nicht sehe, sind gleichgeschlechtliche
Paare, geschweige denn allein reisende Männer.
„Ah, Mister Linden, hier habe ich
Ihre Buchung.“ Torry strahlt mit den blinkenden Lichterketten um die Wette.
Diesmal reagiere ich sofort, nicht,
dass der Typ mich noch für einen Trottel hält.
„Lindner. Mein Name ist Lindner“,
korrigiere ich.
„Natürlich, Sir.“ Torry nickt
eifrig. Sein Lächeln wird noch breiter und ich überlege, ob er gerade versucht,
mich anzubaggern.
Ich muss zugeben, er ist eine
ziemliche Versuchung, aber nicht mein Beuteschema. Er ist zu jung und zu
zuckrig. Ich bevorzuge die dunklen, geheimnisvollen Typen.
„Ich habe alles vorbereitet. Ihre
Anzahlung ist verbucht, Sie müssen nur noch die Anmeldung unterschreiben,
Mister Linden.“ Dass ich den Mund öffne und den Zeigefinger hebe, übergeht er
geflissentlich. „Ich habe mir erlaubt, Ihnen ein Upgrade zu geben.“ Torrys
vertrauliches Zwinkern bilde ich mir nicht ein. Ganz sicher nicht.
„Wenn Sie hier bitte signieren
würden?“ Er zeigt auf eine Zeile am unteren Rand des Papiers, das er mir zuschiebt.
Suchend blicke ich über den
Rezeptionstresen.
„Bitte sehr.“ Hilfsbereit reicht Torry
mir einen Stift in Form einer Zuckerstange.
Oh Gott. Das ist ein Albtraum! Ich
erwarte, jeden Moment schweißgebadet im Flieger aufzuwachen.
Die Zuckerstange wirft allerdings
eine wichtige Frage auf.
„Sagen Sie, Torry. Sind die
Zimmer auch weihnachtlich dekoriert?“
„Aber natürlich, Sir!“ Als hätte
jemand einen Knopf gedrückt, erscheint sein Strahlemannlächeln.
Welche Pillen Torry wohl
schluckt, um in diesem Umfeld so eine blendende Laune zu haben? Vielleicht
sollte ich ihn fragen, ob er auch eine für mich hat?
„Wie könnte es auch anders sein“,
knurre ich. „Sorgen Sie bitte dafür, dass alles aus meinem Zimmer entfernt
wird. Ich gehe jetzt an die Bar und genehmige mir einen Drink. Wenn ich
zurückkomme, möchte ich, dass es erledigt ist.“
„Die ganze weihnachtliche Deko?“
Er sieht mich an, als hätte ich ihn aufgefordert, kleine Kätzchen zu ertränken.
„Bis auf die letzte Tannennadel.“
Ich nehme die Key-Card an mich,
die bereits auf dem Tresen liegt. Im Weggehen wird mir bewusst, dass ich mich
hier noch gar nicht auskenne.
„Wo finde ich die Bar?“
„Zu dieser Tageszeit ist nur die Poolbar
geöffnet.“ Er zeigt auf einen Wegweiser an der gegenüberliegenden Wand.
Na super. Noch trage ich ein
Longsleeve, Jeans und gefütterte Boots. Damit soll ich mich jetzt in den
beheizten Poolbereich setzen?
Statt besser, wird dieser Tag
immer schlimmer.
Eigentlich habe ich mich auf eine
gut klimatisierte Bar im Inneren des Hotels gefreut.
Egal. Nach diesem ganzen Desaster
brauche ich einen Drink!
Sobald mein Zimmer von jeglichem
Schnickschnack befreit ist, kann ich es mir dort gemütlich machen.
Duschen, etwas Bequemes anziehen
und mich von dem nervigen Flug erholen. Klingt nach einem sehr guten Plan.
4 Benehmen ist Glücksache - Julian
Im Sommer gehört der Bereich, den
ich gerade betrete, wohl zu den Außenanlagen des Hotels.
Um den Gästen jederzeit angenehme
Bademöglichkeiten zu bieten, hat man einen Teil der Fläche überdacht und mit
versenkbaren Glaswänden versehen.
Überwältigt bleibe ich stehen, um
mir das weitläufig angelegte Areal genauer anzusehen.
Es gibt eine Poollandschaft, ein
Extrabecken für die Wasserrutsche und eine Bar. Großzügige Flächen mit Liegen,
die sehr bequem aussehen, dazu Sitzgruppen an denen anscheinend auch kleine
Snacks serviert werden.
Jeder Bereich wird durch
zahlreiche, passend bepflanzte Rollcontainer aufgelockert.
Mal sind sie mit Gittern
ausgestattet, an denen die Pflanzen emporranken und dadurch als Sichtschutz
fungieren. Andere enthalten üppig wachsende, bunt blühende niedrige Büsche.
Am meisten erstaunen mich die bis
zum Glasdach reichenden Palmen.
Dabei entdecke ich, dass an den
Metallstreben über den Liegeflächen zahlreiche UV-Strahler angebracht sind.
Dadurch kann man selbst bei schlechtem Wetter braun werden.
Es ist verdammt voll hier.
Gäste in Badekleidung planschen
in den großen Becken oder lümmeln faul auf den Liegen herum.
Die tropische Wärme, die mir beim
Eintreten bereits den Schweiß aus den Poren getrieben hat, weist mich nachdrücklich
auf mein völlig unangebrachtes Outfit hin.
Egal! Einen Drink lang werde ich es
schon aushalten.
Die Bar befindet sich linker Hand
und während ich auf einen der freien Hocker klettere, greife ich bereits nach
der Getränkekarte.
„Guten Tag, Sir. Haben Sie schon
gewählt?“
„Meine linke Pobacke hat den Sitz
noch nicht berührt. Wie kann ich da gewählt haben?“, brummle ich unwirsch.
Ich hebe den Blick, um die
übereifrige Bedienung in Augenschein zu nehmen.
Eigentlich sollte man meinen, in
diesem Hotel könnte mich nichts mehr schocken. Irrtum!
Der Bartender, der, wie ich
zugeben muss, eine sehr verführerische dunkle Stimme besitzt, trägt eine
Santa-Weste mit passender Mütze.
Die Weste aus rotem Samt liegt
eng an seinem verboten gut geformten Körper und reicht leicht über die schmalen
Hüften. Der breite schwarze Gürtel mit goldener Schnalle betont seine Taille
und damit die V-Form seines Oberkörpers.
Alle Ränder sind mit flauschigem
weißen Plüsch besetzt, wobei die Armausschnitte meinen Blick magisch anziehen.
Falsch! Es sind seine muskulösen
Arme. Die bronzefarbene glatte Haut lässt meine Fingerspitzen unruhig kribbeln.
An seinem rechten Oberarm entdecke
ich ein Tattoo. Das Lederband mit einem indianisch anmutenden Amulett wirkt
durch die 3D Tätowierung täuschend echt.
Eigentlich bin ich nicht so der
Tattoo-Liebhaber.
Meinen Körper würde ich für kein
Geld der Welt mit einer in Farbe getränkten Nadel bearbeiten lassen. Allein der
Gedanke, was dabei alles passieren kann, lässt mich schaudern.
Was, wenn der Tätowierer falsche
Stiche setzt oder die Haut sich entzündet? Bei Google würde man garantiert die
schlimmsten Bilder finden.
„Kein Problem. Wählen Sie in
Ruhe. Ich bin hier.“
Das wissende Lächeln, mit dem er
mich bedenkt, treibt mir die Schamröte ins Gesicht.
„Danke“, nuschele ich und stecke
meine Nase schnell in die Karte.
Nach einer Weile habe ich mich
wieder gefangen und lege sie beiseite.
„Wissen Sie was?“ Entschlossen sehe
ich dem Mann direkt in die Augen.
Okay, ich nehme den Umweg über
das Stück Haut, das durch den Ausschnitt der Weste zu sehen ist.
Zu meiner Verteidigung sei
gesagt, dass diese Stelle genauso samtig und verlockend aussieht, wie die Haut
an seinen Armen.
Der Bartender hebt eine Braue und
signalisiert, dass ich seine ganze Aufmerksamkeit habe.
Meine Bestellung muss warten.
Haben mich seine Haut und die
Muskeln schon kurzfristig abgelenkt, gelingt es diesem markanten Gesicht mit
den dunkelbraunen Augen noch effektiver.
Wow! Es hört sich vielleicht blöd
an, aber dieser Mann ist eine echte Schönheit.
Ich schlucke hart und räuspere
mich, ehe meine Stimme mir gehorcht.
„Mixen Sie mir einfach etwas. Möglichst
stark. Aber tun sie mir den Gefallen und garnieren Sie es auf keinen Fall …
ich wiederhole … auf keinen Fall mit irgendetwas, das auch nur annähernd
nach Weihnachten aussieht, duftet oder schmeckt.“
Ich ziehe die Stirn kraus.
Versucht dieser Kerl gerade, sich
ein Lachen zu verkneifen? Das wäre ein echter Affront!
Ach egal, was geht mich dieser Typ
an?
Soll er ruhig lachen.
Ich werde meinen Drink genießen
und dann in meinem Zimmer verschwinden.
Die Zeit, die ich hier vertrödle,
dürfte dem Personal ja wohl reichen, um allen weihnachtlichen Schnickschnack zu
entfernen.
„So, bitte sehr. Einmal Strong
Special ohne den geringsten Hauch von Weihnachten.“
Der Barmann legt eine kleine
Serviette auf den Tresen und stellt einen Tumbler, gefüllt mit einer
bräunlichen Flüssigkeit darauf ab.
Ohne eine Entgegnung abzuwarten, geht
er ein paar Schritte zur Seite und wendet sich einem neuen Gast zu.
„Danke“, rufe ich ihm nach.
„Brauchen Sie meine Schlüsselkarte nicht, um den Drink auf meine Rechnung zu
setzen?“
„Der geht aufs Haus. Nehmen Sie ihn
als Begrüßungsgetränk.“
„Na dann … noch mal danke.“ Ich
hebe das Glas und will gerade zum ersten Schluck ansetzen, als hinter mir ein
Kind freudig ausruft: „Da ist Santa!“
Ich gucke mich um und
tatsächlich, trotz der sommerlichen Temperaturen steht da ein Mann in
vollständigem Santa-Kostüm, umringt von kleinen Kindern mit ihren Eltern.
Mein Gott, die lassen hier aber
auch gar nichts aus.
Auf diesen erneuten Schock setze
ich das Glas an die Lippen und trinke es in einem Zug aus.
Keine gute Idee, wie ich Sekunden
später spüre.
Es fühlt sich an, als würde die
Flüssigkeit auf ihrem Weg durch meine Kehle alles verätzen.
Tränen schießen mir aus den Augen
und ich kann nicht mehr atmen.
„Alles gut?“ Besorgt erklingt die
sonore Stimme von jenseits der Theke.
„Ja“, krächze ich und schnappe
mühsam nach Luft. „Alles bestens!“
Mit einer Hand umklammere ich das
Glas, mit der anderen halte ich mich am Tresen fest, um das Gleichgewicht nicht
zu verlieren.
Fuck …! Ich bin doch noch
viel zu jung zum Sterben.
Wenn ich schon draufgehen muss,
dann bitte nicht in diesem Weihnachtswunderland. Da habe ich echt Besseres
verdient.
„Hier, trinken Sie!“ Der Bartender
scheint direkt neben mir zu stehen.
Sehen kann ich nichts.
Wahrscheinlich bin ich jetzt blind.
Was der schillernden
Weihnachtsdeko nicht gelungen ist, hat dieser Drink erledigt.
Mir wird das Glas aus der Hand
genommen und ein neues hineingedrückt.
„Trinken!“, fordert die Stimme im
Befehlston.
Soll ich das wirklich tun? Was,
wenn der Typ mir jetzt den Rest geben will?
Nein, das wird er sich nicht trauen!
Schon gar nicht vor den Kindern.
Was solls? Ich bekomme zwar
wieder Luft, aber dafür setzt ein quälender Hustenreiz ein.
Mutig nehme ich einen Schluck,
dann noch einen.
„Ist das Tomatensaft? Ich hasse
Tomatensaft“, ringe ich mir mühevoll ab.
„Alles andere hätte mich auch
gewundert“, brummt der Bartender leise, aber nicht leise genug, um nicht von mir
gehört zu werden.
„Sie machen mir ja Spaß“, echauffiere
ich mich.
Oh, das Kratzen hat fast
aufgehört. Wie angenehm. Die Erleichterung motiviert mich dazu, meine
Schimpftriade fortzusetzen.
„Erst versuchen Sie, mich
umzubringen und nun werden Sie auch noch frech.“ Ich setze das Glas ab und
wische mir über die Augen.
Gott sei Dank, ich bin nicht erblindet.
Dass ich glasklar erkennen kann,
wie eng die Jeans des neben mir stehenden Mannes seine Oberschenkel umspannt,
ist Beweis genug dafür.
„Sie haben den extra starken
Drink bestellt, schon vergessen? Ich habe Ihnen das Gewünschte serviert. Sie
sehen alt genug aus, um eigene Entscheidungen zu treffen.“ Der Bartender verzieht
sich wieder hinter die Theke.
„Wollen Sie damit sagen, ich sehe
alt aus?“, schnaube ich entrüstet. „Toller Service! Gehen Sie davon aus, dass
Sie kein Trinkgeld bekommen.“
„Von Ihnen würde ich auch keines
annehmen“, entgegnet der Mann kühl und will mich anscheinend ignorieren. Jedenfalls
dreht er mir demonstrativ den Rücken zu und poliert Gläser.
Statt mich weiter so furchtbar zu
benehmen, sollte ich mich lieber auf mein Zimmer verkrümeln.
Eigentlich bin ich ein
friedliebender Mensch. Streitgesprächen gehe ich meist aus dem Weg. Selbst bei
Provokationen dauert es lange, ehe ich mich zur Wehr setze.
Dieses Fiasko kann ich mir nur so
erklären, dass die musikalische Dauerberieselung, der Schock über das Hotel und
der Jetlag mich unberechenbar machen.
Um mich nicht noch weiter
schlecht zu benehmen, stehe ich auf, murmle eine Verabschiedung, und gehe
zurück in die Lobby. Dort habe ich vorhin mehrere Aufzüge gesehen, die mich in
meine Etage bringen können.
„Ah, Mister Linden!“ Torry eilt
mit einem breiten Lächeln im Gesicht herbei.
„Lindner“, korrigiere ich ihn
automatisch.
„Natürlich.“ Er nickt eifrig.
„Ich wollte Sie gerade suchen. Ihr Zimmer ist fertig und ich habe mir erlaubt,
Ihr Gepäck nach oben bringen zu lassen.“
Wie ein Golden Retriever, der auf
sein Lob für ein braves Sitz wartet, blickt Torry mich an.
„Ich hoffe, es befindet sich
wirklich keine einzige Tannennadel mehr im Zimmer.“
Zweifelnd verziehe ich den Mund
und drehe mich auf den Absätzen um, in Richtung Aufzüge. Den übereifrigen Torry
lasse ich einfach stehen.
~*~
Einmal tief durchatmen, dann
halte ich die Key-Card vor den Türöffner.
Nach wenigen Schritten, die mich durch
eine kleine Diele in ein geräumiges Zimmer bringen, bleibe ich überrascht
stehen.
Statt der sonst in Hotels
üblichen Teppichböden in grauenhaften Farben, empfängt mich hier ein heller
Holzfußboden, der dem Ganzen einen heimeligen Touch verleiht.
Das Queen-Size-Bett steht
seitlich zu einer riesigen Fensterfront, vor der zwei Rattansessel mit dicken
Polstern arrangiert sind.
Ich durchquere den Raum, öffne
die breite Schiebetür und trete auf den Balkon.
Meerblick! Mein Zimmer hat
Meerblick!
Das Wetter meint es heute
ungewöhnlich gut. Die Sonne scheint, der Himmel ist durchgehend blau und nur
wenige Wolken ziehen langsam dahin. Der leichte Wind trägt den salzigen Geruch
des Ozeans zu mir herauf.
Ja, so kann man es aushalten.
Gegen die tropischen Temperaturen
des Poolbereichs ist das hier eine echte Wohltat.
Ich setze mich auf einen der
Holzstühle. Sie haben die Höhe von Barhockern und ermöglichen einen
uneingeschränkten Blick über das Balkongeländer.
Man sieht weitläufige
Rasenflächen, unterbrochen von schmalen Kieswegen, an denen Bänke zum Ausruhen einladen.
Rankbögen überdachen jede einzelne. Runde Blumenbeete unterbrechen mit bunten
Farbtupfern das ansonsten einheitliche Grün.
Das weitläufige Gelände ist von einem
hohen Zaun umgeben. Wohl aus Sicherheitsgründen, da es direkt an der Steilküste
zum Pazifik endet.
Einen Moment genieße ich die Ruhe
und lausche auf das Rauschen des Meeres, ehe ich ins Zimmer zurückkehre.
Vereinzelte Sonnenstrahlen fallen
auf die blütenweißen Bezüge des Bettes, bringen sie regelrecht zum Leuchten.
Dadurch bilden sie einen wunderbaren Kontrast zu der mit dunklem Holz
vertäfelten Kopfwand.
Der Rest des Zimmers ist in
sanften und teilweise kräftigen Blautönen gehalten, die sich auch in den
weiteren Möbelstücken wiederfinden.
Das Ganze vermittelt einen
maritimen Touch, ohne kitschig zu wirken.
Der Innenarchitekt hat bei der Einrichtung
des Hotels einen sehr guten Geschmack bewiesen. Leider kommt der in der Lobby
durch die völlig übertriebene Weihnachtsdeko nicht zur Geltung.
Gespannt öffne ich die Tür zum
Bad.
Wow! Das ist mal wirklich wow!
Weißer Marmor überall.
Eine geräumige, ebenerdige
Dusche, zwei Waschbecken, deren braune Schalen in einem robusten Holzschrank versenkt
sind. Alles wirkt edel und elegant.
Zu jeder anderen Jahreszeit würde
ich mich hier sehr wohl fühlen.
Okay, es wäre sogar genial, wenn
auch das Personal der gehobenen Hotelklasse entsprechen würde. Da hat man anscheinend
gespart, und das Geld lieber in die Ausstattung investiert.
So, genug herumgetrödelt.
Ich packe rasch meinen Koffer aus
und lege mir frische Wäsche parat.
Eine Dusche habe ich jetzt bitter
nötig, da mir meine Klamotten unangenehm am Körper kleben.
Anschließend lege ich mich für eine
kurze Ruhepause ins Bett. Der Timer meines Handys wird mich in einer Stunde
wecken.