Freitag, 12. Mai 2023

[Leseprobe] Daddys Vermächtnis: Der erste Fall für Brady & Wolf

 Brooks ~ Jagdzeit

Ich liege bäuchlings im Gestrüpp und betätige wieder und wieder den Auslöser meiner Kamera. Für dieses Motiv würden andere vermutlich morden, aber von mir, Brooks Ewing, erwartet man solche Bilder.

Wer in Kanada eine Dokumentation über Wölfe machen will und dazu eine Fotostrecke benötigt, fragt mich.

Dabei sind Wölfe nicht die einzigen Wildtiere, die ich fotografiere.

Momentan ist mein Objektiv allerdings wirklich auf diese wunderschönen Caniden gerichtet.

Eine im Gras liegende Fähe mit drei Welpen, die um sie herumtoben und sich gegenseitig in die winzigen Ohren beißen.

Der Anblick entlockt mir ein Lächeln.

Unbestritten, ich mag Wölfe!

In diesem Fall sind es die sehr groß wachsenden Mackenzie-Wölfe, die hauptsächlich in der Westhälfte Kanadas vorkommen.

Die beinahe schwarze Wölfin und ihre noch sehr gescheckt aussehenden Jungtiere, die etwa zwölf Wochen alt sein dürften, sind keine drei Meter von mir entfernt und nehmen mich dennoch nicht als Bedrohung wahr.

Woran genau das liegt, weiß ich nicht, denn auch wenn ich ein wenig ungewöhnlich bin, wäre meine Andersartigkeit eigentlich ein Grund für pure Aggression mir gegenüber.

Wölfen droht in British Columbia ständig große Gefahr durch Menschen, denn sie sind zum Abschuss freigegeben.

Für mich eine traurige Realität, die sich aber aus der starken Population ergibt.

Meine Waffe ist jedoch eine Digitalkamera, kein Gewehr.

Vielleicht macht das schon den entscheidenden Unterschied?

Genervt schüttle ich den Kopf, weil ich darüber nicht nachdenken will.

Ich bin hier, um Fotos zu machen, nicht um mein Selbst zu ergründen.

Ein leises Knistern neben dem Gebüsch, unter dem ich größtenteils liege, lässt mich die Kamera senken und den Atem anhalten.

Der rasche Blick nach vorn verrät mir, dass sowohl die Fähe als auch ihre drei Welpen noch dort sind, weshalb ich den Kopf nach rechts drehe und innerlich fluche.

Logisch, die Wolfsmutter ist das Alphaweibchen des Rudels und sie wird niemanden außer ihrem Gefährten so nah an ihren Nachwuchs lassen.

Ebenjener steht, interessiert an meinem Hosenbein schnüffelnd, da und scheint sich nicht darüber klar zu sein, was er mit dem in Wald-Camouflage eingefärbten Stoff tun soll.

Ruhig atme ich durch und drehe mich, die Kamera in der Linken, auf die Seite, um ihn zu mustern.

Geez, der Alpharüde ist ein ausgesprochen stattliches Exemplar und dürfte um die achtzig Kilo wiegen, also locker fünfundzwanzig Kilo mehr als ich.

Mackenzie-Wölfe sind die größte Unterart aller Wolfsgattungen und der Rüde neben mir misst von Nasen- bis Schwanzspitze ganz sicher über zwei Meter.

Er hat eine schwarze Decke, während seine langen Beine in Braun und Schwarz gescheckt sind.

Stünde ich direkt neben ihm, wären seine Schultern auf Höhe meines Beckens, sein Kopf auf Höhe meines Bauches.

Mir wird ein wenig anders, auch wenn ich aus den vergangenen Jahren weiß, dass ich derartige Begegnungen immer unbeschadet überstanden habe, weil ich eben nicht bedrohlich wirke.

So nah ist mir allerdings noch kein wild lebender Wolf gekommen!

Sollten er und seine Gefährtin beschließen, dass ich nun doch eine Gefahr bin, habe ich schlicht keine Chance – egal in welcher Gestalt.

Um den neugierigen Rüden von diesem für mich tödlichen Entschluss abzubringen, bleibt mir nur, möglichst unterwürfig zu sein und genau das auch durch meine Körpersprache zu zeigen.

Also weiter auf den Rücken rollen und den Blick senken.

Die Kamera in meiner Hand richte ich auf ihn, ohne sie großartig zu heben, und betätige auf gut Glück den Auslöser.

Solche Fotos habe auch ich noch nie geschossen und sie wären verdammt viel Geld wert!

Der Rüde kommt näher, schnüffelt nun auch an meiner Weste und wirkt noch immer eher neugierig als aggressiv, weshalb ich es schaffe, mich ein wenig zu beruhigen und den Finger auf dem Auslöser zu halten.

Seine feuchte Nase ist nur noch Zentimeter von meiner entfernt, mein Blick wieder gesenkt, deshalb zucke ich zusammen, als er mich plötzlich anniest und danach von mir ablässt.

In einem kleinen Bogen, den die Alphawölfin zu dieser Zeit des Jahres ganz sicher auch von ihrem Gefährten einfordert, umrundet er sie und ihre Welpen, und ich rolle zurück auf den Bauch, um alles in Bildern festzuhalten.

Sie belauert ihn ganz anders, als sie meine Anwesenheit beachtet hat, vielleicht ist auch das Teil seiner Entscheidung gewesen, dieses komische Menschlein im Gebüsch in Ruhe zu lassen?

Die zwei sind nicht die Anführer ihres Rudels, weil sie Fehlentscheidungen getroffen oder eigenmächtig gehandelt haben.

Eine Sache, die ich an Wölfen und ihrer Lebensstruktur zugleich sehr liebe und verabscheue.

Verrückt, ich weiß, aber es hat eben persönliche Gründe.

Jetzt nur nicht wieder abdriften!

Ich mache noch ein paar Fotos, dann ziehe ich mich langsam zurück. Stück für Stück auf allen vieren, bis ich den nötigen Abstand erreicht habe und aufstehen kann, ohne dass mich jemand als Bedrohung ausmacht.

Gemütlich wandere ich mehr als eine Stunde lang zurück zu meinem Zeltplatz und überlege, ob ich jetzt schon zusammenpacken sollte.

Ein Blick auf meine Uhr verrät, dass ich noch ein paar Stunden habe, bevor ich mit meiner Ausrüstung wieder am Parkplatz nahe dem Garibaldi Lake sein sollte.

Außerdem habe ich Hunger.

An meinem getarnten und gut abgesicherten Zelt angekommen, lege ich die Kamera weg und kümmere mich darum, meinen mittlerweile knurrenden Magen zu füllen.

Während der Gaskocher das Wasser für meine gefriergetrockneten Nudeln mit Tomatensoße erhitzt, sehe ich mir die heutige Ausbeute an.

Erst zu Hause in Nord-Vancouver werde ich die Dateien auf meinen Laptop ziehen und mir in Ruhe alle Details ansehen können, aber speziell die letzten Bilder will ich checken. Ich habe schließlich noch keine Ahnung, ob ich den an mir schnüffelnden Alpha in brauchbarer Weise drauf habe, oder nicht.

Ha! Die Serienbilder sind tatsächlich scharf und zeigen, wie nah er mir gekommen ist!

Ich freue mich sehr darüber und überlege bereits, welchem der zahlreichen Magazine, für die ich freiberuflich arbeite, ich die Bilder anbieten will. Auch wenn ich sie zuerst immer dem National Nature Magazine anbiete, weil das vertraglich so geregelt ist, kämen auch einige andere Hefte infrage.

Nach dem Essen beginne ich mit dem Abbau, verstaue alles in und an meinem Rucksack und mache mich auf den etwa zwei Stunden dauernden Fußmarsch durch die Berge zurück zum Parkplatz.

Direkt am Garibaldi Lake wären zwar auch Möglichkeiten zum Campen gegeben, aber da sind zu viele Touristen. Für Fotos, wie ich sie machen will, muss ich eben ein paar Meilen Wanderung in Kauf nehmen.

Wenn ich mehr Zeit habe, fahre ich deutlich weiter nördlich ins Interior Plateau von British Columbia oder mache einen ausgedehnten Hike durch die Landschaften von Vancouver Island, aber da ich am morgigen Montag ein Treffen mit einem Redakteur habe, war diesmal nur eine Woche Aufenthalt im Wald möglich.

Am Parkplatz angekommen, sehe ich, dass noch einige Autos dort herumstehen. An manchen sind Touristen gerade dabei, ihre Ausrüstung zu verstauen, Kinder einzufangen und abzufahren.

Ich stehe noch an der geöffneten Heckklappe meines Geländewagens und räume gewohnheitsmäßig die Kameratasche aus dem Rucksack in eine Metallkiste im Kofferraum um.

Das mache ich immer so. Die Kiste ist fest verzurrt und ziemlich bruchsicher. Sollte ich also jemals einen Autounfall haben, werden die Fotos, die ich zuletzt gemacht habe, in jedem Fall überleben.

Zu meiner großen Freude steht noch ein Verkaufswagen auf dem Platz – ich brauche dringend einen Kaffee!

Heckklappe zu, losschlendern.

Minuten später kehre ich, an einem To-go-Becher schlürfend, zurück zu meinem Wagen und sehe neugierig auf, als ich einen lauten Fluch höre.

Owen ~ Wutwanderung

Ungeduldig zerre ich um fünf Uhr morgens meinen für solche Fälle immer fertig gepackten Wanderrucksack aus dem Abstellraum neben meinem Schlafzimmer und stürme die Treppe hinunter.

Im Büro schreibe ich eine Nachricht für Michelle, meine Haushälterin, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie ist zwar nur zwölf Jahre älter als ich, aber in Ermangelung einer eigenen Familie behütet sie mich, als wäre ich ihr Sohn.

Dieser Gedanke entlockt mir ein kurzes Lächeln, ehe meine grottenschlechte Laune es wieder vertreibt.

Mit dem Geländewagen fahre ich zur Auffahrt der Route 99, dann weiter bis zum Garibaldi Lake.

Nach einer guten Stunde Fahrt stelle ich den Wagen auf einem der großen Parkplätze ab. Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass außer meinem noch ein Fahrzeug auf dem Schotterplatz steht. In der Regel bin ich um diese Uhrzeit der einzige Wahnsinnige, der sich hier rumtreibt. Die Sonntagsausflügler erscheinen frühestens um zehn Uhr.

Egal! Rucksack schultern und dann marschieren. Meine miese Stimmung werde ich nur durch eine lange, kräftezehrende Wanderung los.

Inzwischen ist die Sonne aufgegangen und verleiht dem See einen rotgoldenen Schimmer. Der Anblick ist wunderschön und sollte einem das Herz weiten. Funktioniert bei mir heute nicht.

Abrupt wende ich mich um und folge einem schmalen Pfad. Ich kenne die Gegend hier ziemlich gut. Der Weg wird mich in den dichten Wald und zu ein paar steilen Anstiegen bringen. Sie sind genau das, was ich suche.

Seit ich gestern Abend aus Calgary zurückgekommen bin, habe ich noch kein Auge zugemacht. Mein schlechtes Gewissen lässt mich nicht zur Ruhe kommen.

Die fünfzehnjährige Tochter eines mittellosen Ehepaares wurde seit zwei Wochen vermisst. Für die Polizei war das Mädchen eine typische Ausreißerin, daher unternahm man keine großen Anstrengungen, sie zu suchen.

Durch eine winzige Meldung in der Tageszeitung wurde ich auf den Fall aufmerksam und bot den Eltern sofort meine Hilfe an.

Es dauerte eine weitere Woche, ehe ich brauchbare Hinweise fand. Sie führten mich nach Calgary, auf die Spur eines polizeibekannten Sexualstraftäters.

Obwohl der Mistkerl verhaftet werden konnte, kam für das Mädchen, Melanie, jede Hilfe zu spät.

Der Gedanke an den Anblick ihrer Leiche lässt bittere Galle in mir hochkochen.

Ich hasse es, wenn Leute, die wenig Geld haben, anders behandelt werden als besser situierte. Die Polizei unternimmt kaum etwas, weil nach ihren Erfahrungswerten Kinder aus ärmeren Verhältnissen grundsätzlich erst mal als Ausreißer eingestuft werden. Den Medien ist so was meist noch nicht mal eine Nachricht wert. Erst wenn solch ein Fall böse endet, wird er auf den Titelseiten ausgeschlachtet.

Ziemlich außer Atem erreiche ich die erste Anhöhe und muss kurz pausieren. Meine Wut hat mich den Anstieg viel zu schnell nehmen lassen.

Der Stamm eines dicken Baumes, der scheinbar dem letzten Herbststurm nicht standgehalten hat, dient mir als Sitzgelegenheit. Aus dem Rucksack hole ich eine Flasche stilles Wasser und trinke in kleinen Schlucken.

Ich mag gar nicht daran denken, dass ich heute Abend Melanies Eltern aufsuchen muss.

Jemand von der örtlichen Polizei war gestern bereits bei ihnen. Sie mussten anhand eines Fotos die Identität ihrer Tochter bestätigen und wurden über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis gesetzt.

Es wäre also nicht zwingend notwendig, dass ich noch einmal mit ihnen spreche. Schließlich habe ich mir den Fall selbst ausgesucht und ihn unentgeltlich übernommen. Aber es ist nicht meine Art, mich vor unangenehmen Dingen zu drücken.

Was mir am meisten zu schaffen macht, ist, dass ich die Informationen viel zu spät bekommen habe. Hätte mich mein Freund Scott, seines Zeichens Ermittler im Morddezernat, sofort angerufen, als das Mädchen als vermisst gemeldet wurde, hätte ich sie vielleicht noch retten können.

Den Burschen werde ich mir morgen zur Brust nehmen. Wie oft habe ich ihm schon eingetrichtert, er soll mich umgehend informieren, sobald ihm solch ein Fall zu Ohren kommt? Bin gespannt, welche Ausrede er diesmal parat hat.

Ich verstaue meine Wasserflasche, nehme dafür meine Kamera heraus und hänge sie mir um den Hals, ehe ich mich weiter auf den Weg mache.

~*~

Am Spätnachmittag treffe ich wieder an meinem Ausgangspunkt ein. Die lange Wanderung, die Stille des Waldes und etliche Fotos von buntschillernden Insekten haben meine Nerven zur Ruhe kommen lassen und ich bin wieder mit mir im Reinen.

Auf dem Parkplatz stehen nur noch wenige Fahrzeuge. Mehrere Familien mit Kindern versuchen, ihr Picknickzubehör zu verstauen, ohne ihren Nachwuchs aus den Augen zu verlieren.

An dem Wagen neben meinem lehnt ein Mann und nippt vorsichtig an einem Coffee-to-go-Becher.

Ich stelle meinen Rucksack in den Kofferraum und ziehe die Klappe herunter, um sie zu schließen. Zu spät bemerke ich, dass sich der Trageriemen meiner Kamera an der Ecke verhakt hat. Selbstverständlich reißt er und das Gerät fällt zu Boden.

„Scheiße!“, fluche ich lauthals und bücke mich, um es aufzuheben.

„Heute ist echt nicht mein Tag“, schimpfe ich vor mich hin. Das Ding ist mit der Seite auf einem spitzen Stein gelandet.

„Wegen eines kleinen Unfalls wollen Sie gleich einen ganzen Tag wegwerfen?“

Ruckartig hebe ich den Kopf. Die leicht amüsiert klingende Bemerkung kommt von dem Kaffeetrinker.

Ich unterziehe ihn einer genauen Musterung. Hellbraune Haare lugen ziemlich strubbelig unter seinem Basecap hervor. Seine ungewöhnlich dunkelgrauen Augen blitzen fröhlich.

Na, der macht mir Spaß.

„Ich würde gerne mehr als nur diesen Tag wegwerfen. Die kaputte Kamera ist nur das Tüpfelchen auf dem i“, meckere ich weiter.

Er schürzt die Lippen und drückt mir seinen Kaffeebecher in die Hand, während er mir zeitgleich die Kamera abnimmt, um sie zu untersuchen.

Ziemlich perplex starre ich den Typen an und suche nach Worten, die ihn in seine Schranken weisen.

„Hm, nur der Deckel des Batteriefachs ist herausgebrochen, das kann man ganz einfach reparieren und Ihren Fotos dürfte nichts passiert sein“, behauptet er und lächelt mich aufmunternd an.

„Und das wissen Sie woher?“, frage ich skeptisch.

Sein Grinsen wird geradezu frech, als er sagt: „Ich bin Brooks Ewing, mir gehört das Fotostudio im Westview Shopping Centre. Meine Angestellten reparieren quasi täglich solche Schäden.“

„Brooks Ewing? Der Brooks Ewing? Der Tierfotograf?“ Wer in Kanada kennt diesen Namen nicht?

„Höchstpersönlich!“ Mein Gegenüber nickt und lacht mich keck an. „Mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Sie haben vergessen, die aufregenden Dokumentationen zu erwähnen.“

„Stimmt“, gebe ich zu. „Da lerne ich durch mein Missgeschick tatsächlich eine echte Berühmtheit kennen. Ich bin übrigens Owen Brady.“

Die Augenbrauen dieser unerträglichen Frohnatur rutschen in seine Stirn. „Der Philanthrop mit der genialen Spürnase?“

Diese Bezeichnung lässt mich hart auflachen.

„Ich glaube, niemand der mich näher kennt, würde mich so bezeichnen.“

„Wie? Spürnase?“, gibt er wölfisch grinsend zurück und ich fühle mich leicht verarscht.

„Der Philanthrop zeigt Ihnen gleich, wie gut er extrem fröhliche Menschen leiden kann“, knurre ich aufgebracht.

„Ich verrate Ihnen was: Vor ein paar Stunden hat ein etwa achtzig Kilo schwerer Mackenzie-Alpha an diesen Hosenbeinen geschnüffelt und überlegt, ob er mich fressen soll. Solange Sie das nicht überbieten können, machen Sie mir ganz sicher keine Angst mit Ihrer Griesgrämigkeit.“

Ach du Scheiße!

Ich kenne so ziemlich alle Fotos, die Ewing jemals irgendwo veröffentlicht hat und weiß, dass er immer extrem ungewöhnliche Aufnahmen schießt. Aber dass ein Wolf ihm so nahe gekommen sein soll, ohne ihn anzugreifen, halte ich für unwahrscheinlich.

„Und diese Story soll ich Ihnen glauben? Haben Sie Beweise?“, frage ich ironisch.

Er kichert. „Sie denken, ich hätte neben dem unterwürfigen auf dem Boden Herumliegen noch Zeit gehabt, meine Kamera zu zücken?“ Er mustert mich herausfordernd.

„Mister Ewing, ich kenne Ihre gesamte Arbeit. Wenn der Vorfall der Wahrheit entspricht, haben Sie sich solche Aufnahmen nicht entgehen lassen, egal wie gefährlich die Situation war.“

Er muss doch nicht meinen, dass er einen erfahrenen Profiler hinters Licht führen kann …

„Da ist sie ja, die Spürnase!“, feixt er und hebt die Kamerateile etwas an. „Ich kann sie mitnehmen und Sie holen sie sich morgen repariert im Laden ab, dann zeige ich Ihnen, wie waghalsig ich heute war.“

„Okay, ich nehme Sie beim Wort. Aber ich warne Sie. Wenn ich aufkreuze und Sie glänzen durch Abwesenheit, dann lernen Sie den richtigen Griesgram kennen.“ Ich lasse meinen Worten ein süffisantes Lächeln folgen, damit er weiß, dass ich es ernst meine.

„Sie haben eine merkwürdige Art, sich für die Reparatur Ihrer Kamera zu bedanken“, quittiert er ungerührt. „Sie können den Kaffee behalten!“

Der Kerl dreht sich einfach um und lässt mich blöde stehen. Während er ins Auto steigt, brülle ich ihm hinterher: „Ich bezahle die Reparatur, keine Sorge!“

Laut lachend fährt er an mir vorbei und besitzt die Unverschämtheit, mir die ganze Zeit zuzuwinken.

Kopfschüttelnd steige ich ins Auto und fahre nach Hause. Allerdings habe ich vorsorglich die Nummer seines Fahrzeugs in mein Handy getippt.

So fröhliche Menschen wie Brooks Ewing sind mir ein Gräuel. Sie nehmen nichts und niemanden ernst und merken dabei auch nicht, wie sehr sie anderen damit auf die Nerven gehen.

Ich verdränge die Gedanken an ihn und beschließe, Scott heute schon anzurufen. Mir doch egal, dass Sonntag ist und er dienstfrei hat. So kann ich mir während der langweiligen einstündigen Rückfahrt die Zeit damit vertreiben, ihn zusammenzuscheißen.

Scott und ich kennen uns seit Kindergartenzeiten. Er hat sich im Laufe der Jahre an meine grobe Art gewöhnt und steckt sie immer locker weg. Je unfreundlicher ich werde, desto mehr lacht er mich aus. Im Grunde ist er vom Typ her ähnlich wie Brooks Ewing.

Wieso kommt mir dieser Kerl wieder in den Kopf? Ich habe doch beschlossen, nicht weiter an ihn zu denken, weil mir seine Art auf die Nerven geht.

Wie erwartet, redet Scott sich damit heraus, dass er von der vermissten Melanie erst gehört hat, als ich mich schon um den Fall gekümmert habe. Wir verabreden uns für nächste Woche zum Abendessen bei mir, dann lege ich auf, da ich die Einfahrt zu meinem Haus erreicht habe.

Michelle erwartet mich bereits in der geöffneten Haustür. Sie hat meinen Wagen sicher vom Küchenfenster aus gesehen.

„Guten Abend Michelle. Ich muss gleich noch mal weg.“

„Guten Abend Owen. Aber vorher wirst du etwas essen. Du hast heute Morgen noch nicht mal gefrühstückt und wie ich dich kenne, hast du dir unterwegs auch nichts Essbares besorgt.“ Ihr strafender Blick würde selbst hartgesottenere Kerle als mich einschüchtern.

„Lass mich nur schnell duschen und mich umziehen, dann komme ich zu dir in die Küche. Ich habe keine Zeit, mich großartig im Esszimmer niederzulassen.“

Ich eile an ihr vorbei und ignoriere das unzufriedene Gebrummel.

Knapp eine halbe Stunde später sitze ich wieder im Wagen und mache mich auf den Weg zu den bedauernswerten Eltern des toten Mädchens.

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