Ich hasse die Nacht, hasse das, was sie aus mir macht, aber
danach hat noch nie jemand gefragt.
Wieso nicht?
Wieso interessiert es niemanden, ob ich können will, was man
mir auferlegt hat?
Nacht für Nacht laufe ich durch die Straßen irgendeiner
Stadt, eines Dorfes, einer Metropole, doch nie erreiche ich mein Ziel.
Nie finde ich, was ich wirklich suche.
Die Einzigen, die mir begegnen sind Obdachlose, Polizisten,
Gangster …
Nun ja, so ganz stimmt das nicht.
In dieser Nacht schlendere ich ziel- und planlos durch die
Straßen von Hamburg. Es hat einen Grund, wieso Libby mich hierher geschickt
hat, aber noch kenne ich ihn nicht.
Erst vor zwei Wochen bin ich aus Indien zurückgekehrt.
Ein Seufzen entkommt mir in Erinnerung an das Chaos, das ich
dort erlebt habe.
Mit einem heftigen Kopfschütteln versuche ich, die grausamen
und brutalen Bilder loszuwerden.
Mein Leben besteht aus Blut, Tod, Tragödien.
Nichts davon habe ich je gewollt oder gar verlangt!
„Du willst mich doch verarschen“, knurre ich und bleibe in
einer schmalen Gasse stehen, ohne mich umzuwenden.
Nur mein Kopf dreht sich nach links und ein verächtliches
Schnauben entkommt mir.
Das tiefe Grollen der Gestalt keine zwei Meter hinter mir lässt
mich bösartig grinsen und ich warte auf eine echte Reaktion desjenigen, der
versucht hat, sich an mich heranzuschleichen.
Niemand von seiner Art kann das.
Ich bin der Schild, der seinesgleichen abwehren kann.
Soll ich ihn näherkommen lassen?
Mit einem sicherlich furchtbar hochmütigen Gedanken hebe ich
die Sicherheitszone um mich herum auf und warte ab.
Das anhaltende Grollen wird zu einer rauen Stimme. Sehr
tief, kaum entzifferbar, aber ich verstehe die Sprache, in der er spricht,
verstehe jede Sprache, in der seine Gattung sich artikulieren kann.
„Du wirst heute Nacht sterben“, erklärt er, was mir ein weiteres
Schnauben entlockt.
„Ich vermutete ja schon, dass du mich verarschen
willst …“, sage ich und strecke meinen rechten Arm aus.
Er kommt näher und während er sich in Sicherheit wiegt,
materialisiert sich das einschneidige Schwert aus purem Licht, das in meinem
Arm ruht, wenn ich es nicht brauche.
Eine einzige, fließende Bewegung, dann rollt der Kopf meines
Möchtegern-Angreifers in die Schatten zwischen ein paar Kisten, die halbherzig
zu den Müllcontainern gestellt wurden.
„Das wird dich nicht schützen“, grollt der Kopf dumpf aus
dem Müllhaufen und ich trete näher heran, um ihn mit meinem Stiefel
herumzudrehen.
„Würdest du bitte nicht so nuscheln?“, verlange ich höflich,
als sich sein Gesicht zu mir wendet.
„Du hältst dich für schlau, Felonstein, aber du solltest hin
und wieder hinter dich blicken.“
Im nächsten Moment begreife ich mit einem Fluch, dass ich
tatsächlich nicht mit weiteren Angreifern gerechnet habe, und dieser hier nur
eine Ablenkung war.
Ich schaffe es nicht, meinen Schild wieder aufzubauen, bevor
sich glitschige, schwarze Tentakel um meinen Hals schlingen und unerbittlich
zudrücken.
Shit! Tyler, tu was!
Ich drehe mich, soweit ich kann, und verteile Hiebe und
Schläge mit meinem Schwert. Das Licht schneidet durch die Tentakel und ich
klappe nach Luft ringend zusammen.
Eine Falle! Eine gottverdammte Falle mitten in Hamburg!
„Pavois!“, flüstere ich mühsam und spüre, wie mein
Schutzschild sich ausdehnt, mir die Feinde vom Leib hält und sie zugleich
angreift.
Ich hasse die Nacht.
Ich hasse mein Leben.
Puh! Endlich bin ich mit dem Großreinemachen in meinem
Schlafzimmer fertig.
Es wurde echt langsam Zeit. Seit Monaten habe ich die frisch
gewaschenen Klamotten immer nur in die Schrankfächer gestopft, meine Schuhe
beim Ausziehen in irgendwelche Ecken getreten und die schmutzige Wäsche hinterhergeworfen.
Als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich mich
umgesehen und festgestellt, dass ich ein echter Chaot geworden bin.
Geworden ist gut. Meine Mutter hat mich Zeit meines Lebens
als Dreckspatz und Schlampe bezeichnet. Damit lag sie vollkommen richtig, denn
ich war schon als Kind eine Katastrophe in Bezug auf das Halten von Ordnung.
Damit ist jetzt Schluss!
In ein paar Tagen werde ich vierundzwanzig und es ist an der
Zeit, erwachsen zu werden.
Natürlich nicht in allen Bereichen, denn als Comic-Zeichner
muss ich die Welt mit anderen Augen betrachten. Ich darf auf keinen Fall meine
Fantasie ausbremsen, muss meine eigenen Realitäten bewahren, in denen ich als
Superheld die Menschheit vor bösen Mächten oder Dämonen beschütze.
Okay, Superhelden putzen in ihren Abenteuern nie, aber ich will
auch nicht länger in meiner Unordnung leben.
Immerhin verlangen die Bosse meines Verlages, dass ich zweimal
im Monat zu einer Besprechung antanze. Vor jedem Termin werde ich hektisch,
weil ich waschen oder bügeln muss, damit meine Klamotten halbwegs anständig
aussehen.
Obwohl ich total kaputt bin, bin ich stolz auf mich.
Alles liegt sortiert und ordentlich gefaltet in den frisch ausgeputzten
Fächern. Die Schuhe stehen im dafür vorgesehenen Regal und alles, was ich schon
länger nicht mehr getragen habe, befindet sich in zwei großen stabilen Plastikbeuteln
an der Tür.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.
Hm, nach Mitternacht. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es
schon so spät ist.
Egal! Jetzt bringe ich meine Arbeit auch zu Ende.
Wohnungsschlüssel einstecken, die ziemlich schweren Säcke
schultern und ab nach unten.
In dem Acht-Familien-Haus, in dem ich wohne, stehen die
Müllcontainer in einer schmalen Nebenstraße an der Hauswand.
Sobald ich die ziemlich dunkle Gasse betrete, höre ich
komische Geräusche.
Es dauert etwas, bis sich meine Augen an die Dunkelheit
gewöhnt haben, aber dann sehe ich einen ziemlich großen Mann, der blitzschnelle
Bewegungen mit seinem rechten Arm vollführt. Man könnte meinen, er kämpft mit
einem Schwert.
Tiefes Grollen, wie von einem Bären, dringt zu mir herüber.
Ich stelle meine Last möglichst leise ab, schleiche zu den
Müllcontainern und ducke mich dahinter.
Der Mann spricht mit jemandem, obwohl ich außer ihm
niemanden sehen kann.
Nach einer schnellen Drehung nähert er sich den Containern
und ich ziehe den Kopf ein, damit er mich nicht bemerkt.
Erneut murmelt er vor sich hin, wonach ein triumphierendes
Grollen erklingt.
Der Fremde dreht sich um, fuchtelt wieder mit dem Arm.
Danach röchelt er, als bekäme er keine Luft, und kippt um wie ein gefällter
Baum.
Ohne nachzudenken, schieße ich aus meinem Versteck und eile
auf den am Boden Liegenden zu.
Er flüstert etwas, aber in meiner Aufregung verstehe ich
kein Wort.
Ich knie neben ihm nieder, rüttle leicht an seiner Schulter
und frage: „Geht es Ihnen gut? Was ist passiert? Kann ich Ihnen helfen?“
Kann diese Nacht noch schlimmer werden?
Sie kann. Offensichtlich.
Jemand hat mich gesehen und vermutlich auch mitbekommen, wie
seltsam ich mich benommen habe.
Weder mein Schwert noch meine Angreifer sind für normale
Menschen sichtbar.
Ich rolle mich am Boden zusammen und blinzle nach oben.
Hm, ein Mann, zu sauber für einen Obdachlosen, zu normal
gekleidet für einen Bullen oder einen Gangster …
Ich atme tief durch und springe auf, warte, bis er sich
wieder erhoben hat und lasse mein Schwert in einer beiläufigen Bewegung zurück
in meinen Arm gleiten.
„Es geht mir gut“, antworte ich und wende mich zum Ausgang
der Gasse, an der der milde Lichtkegel einer Straßenlaterne den Bürgersteig
bescheint.
Der Typ folgt mir, auch wenn ich ihn viel lieber losgeworden
wäre.
„Was ist los mit Ihnen? Wieso sind Sie einfach so zu Boden
gegangen nach Ihren … Ninja-Bewegungen?“
Ich bleibe seufzend stehen und wende mich ihm zu.
„Alles ist in Ordnung. Ich bin gestolpert. Danke für Ihre
Sorge, aber ich muss jetzt gehen.“ Ohne auf seine Antwort oder weitere Fragen
von ihm zu warten, schiebe ich meinen Mantel beiseite und die Hände in die
Taschen meines Hoodies, bevor ich die Straße hinab wandere.
Er wird mir hoffentlich nicht folgen und ich habe für heute
wirklich die Schnauze voll!
Tja, vielleicht hätte ich die Messlatte für eine Scheißnacht
in Hamburg nicht so tief hängen sollen, denn nun beginnt es zu allem Überfluss
auch noch zu schütten wie aus Kübeln.
Trotz meines halblangen Ledermantels werde ich innerhalb von
Sekunden vollkommen durchnässt und wünsche mir im Stillen einen Schutzschild
gegen Regen …
Wieso hat noch keiner an so was gedacht?
Hm, vielleicht, weil der Fluch, den irgendein
Sonnenscheinchen sicherlich als Gabe ansehen würde, offensichtlich dazu gedacht
ist, mich für irgendwelche Missetaten in sämtlichen Vorleben zu bestrafen.
Tropfend wie eine Katze, die in der Badewanne gelandet ist,
betrete ich das kleine, heruntergekommene Hotel, in dem ich derzeit wohne.
Man könnte echt meinen, Hamburg hätte für mich mehr zu
bieten als Hinterhalte und Hotels, in denen mehr Leben in als auf den Matratzen
zu finden ist …
Egal.
Ich muss jetzt erst mal ultraheiß duschen und wieder warm
werden, anschließend sollte ich meinen Laptop nutzen und das Netz durchsuchen,
um herauszufinden, wieso dieser Wicht von einem Besiedler es schaffen konnte,
mich so abzulenken!
Ich muss mit Stan reden, nur er kann mir sagen, wie das
überhaupt möglich war!
Selbst nach der Dusche, mit einem Handtuch um die Hüften und
wieder warm, spüre ich die unerbittlichen Griffe der Tentakel um meinen Hals.
Ich strecke den Nacken und drehe den Kopf, um die
Verspannungen loszuwerden.
Nachdem ich mich halbherzig angezogen habe – Sweatpants,
T-Shirt, Socken – werfe ich mich mit einem angewiderten Blick auf das Bett und
ziehe den Laptop an mich heran.
Stan zu mailen, geht schnell. Er wird mich anrufen, wenn er
irgendwelche Hinweise findet, denen ich folgen kann.
Immerhin bin ich hier in der Stadt, die man das Tor zur Welt
nennt, weil ich von Stan und Libby hergeschickt wurde …
Wie ein begossener Pudel, im wahrsten Wortsinn, stehe ich
noch ein paar Minuten in der Gasse und gucke diesem extrem unfreundlichen Typen
nach.
Ja, er hat sich für meine Sorge bedankt, aber in einem Ton, der
deutlich ausdrückte, dass meine Fragen ihn nerven und ich mich verpissen soll.
Nass wie besagter Hund stapfe ich durch den Hausflur nach
oben.
Meine Nachbarin wird morgen wieder anklingeln und meckern,
dass ich Pfützen im gesamten Treppenhaus hinterlassen habe.
Die alte Schnepfe findet jede Woche einen Grund, mich für
irgendwelchen Scheiß anzumaulen. Völlig egal, ob ich der Verursacher war. Sie
lässt mich auch nie zu Wort kommen, gibt nur ihre Tirade von sich, dreht sich
um und geht.
Meine Mitmenschen gehen mir mittlerweile immer mehr auf den
Sack. Sei es beim Einkaufen, Autofahren oder einem Spaziergang im Park.
In den Läden wird man angerempelt, Entschuldigungen sind ein
Fremdwort geworden. Auf den Straßen sind zum Großteil hirnlose Idioten unterwegs,
die drängeln oder einem kackfrech die Vorfahrt nehmen.
Noch schlimmer sind allerdings diese alten weißen cis
Männer, die meinen, sämtliche Wege in den Parks wurden nur für sie und ihre
Fahrräder gebaut. Klingeln, damit man weiß, es nähert sich ein Rad, ist
vollkommen out. Mit wenigen Millimetern Abstand zischen diese Typen an einem
vorbei, dass man fast einen Herzinfarkt erleidet. Wenn man etwas dazu sagt,
werden sie auch noch rotzig.
Für mich ist die Welt zu einem furchtbaren Ort verkommen.
Rücksicht, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind Worte, die nur noch im
Duden existieren.
Es sollte also niemanden wundern, wenn ich mich in meiner
Wohnung einigle und nur im äußersten Notfall nach draußen gehe.
Diese negativen Gedanken sorgen dafür, dass ich mir wütend die
nassen Klamotten vom Leib reiße. Im letzten Moment fällt mir ein, dass ich ja ordentlicher
werden will, daher hänge ich alles auf das kleine Trockengestell an der
Heizung.
Sobald ich unter der Dusche stehe und das angenehm
temperierte Wasser meine kalte Haut erwärmt, schweifen meine Gedanken wieder zu
der merkwürdigen Szene in der Gasse.
In der ganzen Aufregung habe ich die Gefühle, die mich beim
Zusehen überkamen, gar nicht registriert. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich
um den unfreundlichen Typen herum eine extrem starke Aura von Bedrohung wahrgenommen
habe.
Trotz des heißen Wassers jagt diese Erinnerung eine dicke
Gänsehaut über meinen gesamten Körper.
Ich trete aus der Dusche und ziehe nach dem Abtrocknen
meinen flauschig-warmen Bademantel an.
Meine Fingerspitzen kribbeln, ich muss zeichnen! Sofort!
Mit wenigen Strichen skizziere ich das Szenario in der
Gasse.
Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, hält ein
blitzendes, silbernes Schwert in der Hand und kämpft gegen … schemenhafte Monster.
Während ich die Zeichnung betrachte, ergeben die
Armbewegungen des bärbeißigen Kerls endlich einen Sinn.
Ich schließe die Augen, spule die ganze Begebenheit in
meinen Gedanken wie einen Film nochmals ab.
Eindeutig! Er hat gegen jemanden gekämpft, hat mit diesem
Wesen auch gesprochen, obwohl ich nur angsteinflößendes Grollen und Brummen
gehört habe.
Meine Finger mit dem Zeichenstift fliegen über das nächste Blatt.
Ich hauche den Monstern Leben ein, lasse sie den Helden von
allen Seiten angreifen. Köpfe rollen, Tentakel fallen zu Boden, sobald sie sich
um den Hals den Kämpfers geschlungen haben.
Triumphierend steht er am Ende da, hat alle Ungeheuer vernichtet.
Von ihnen bleibt nur eine schwarze, wabernde Pfütze zurück.
Yeah! Ich habe eine neue Graphic Novel im Kopf, die ich bei
der nächsten Sitzung mit den Verlagsheinis vorstellen werde. Mal sehen, was diese
oft mäkeligen Herrschaften davon halten.
Am liebsten würde ich sofort damit beginnen, die Eröffnungssequenz
mit meinem Zeichentablett am PC zu erstellen, aber es ist schon verdammt spät
und ich brauche meinen Schlaf.
Außerdem, wenn mich eine Idee gepackt hat, suchen mich meist
sehr intensive Träume dazu heim und so entwickeln sich sehr viele Folgen mit dem
Superhelden.
„Hey Ty, wir sind gelandet und sitzen im Taxi. Sag mir
bitte, dass du nicht wieder die hinterletzte Kaschemme als dein Domizil für den
Aufenthalt in einer wunderschönen Stadt wie dieser ausgesucht hast“, plappert
Libby mir in die noch nicht ganz wachen Ohren und ich setze mich abrupt auf, um
mir über das Gesicht zu reiben.
„Äh … doch. Sucht euch was anderes, ich komme zu euch,
wenn ihr eingerichtet seid“, antworte ich und sehe mich gähnend in meinem
wirklich gruseligen Hotelzimmer um.
Die vergilbte Tapete stammt sicherlich noch aus den Zeiten,
in denen man im Hotel rauchen durfte …
Egal, ich sollte mich besser auf Libbys endloses Geplapper
konzentrieren, bevor sie mich anbrüllt oder auflegt, bevor sie ein Hotel
gefunden hat.
Stan und Libby sind meine besten Freunde, wenn ich so etwas
habe. Beide haben gewisse Fähigkeiten und helfen mir, die Typen zu finden, die
ich vernichten soll.
Meist finden diese Kreaturen jedoch mich – wie gestern
Nacht.
„Wir sind im dem Congresszentrum angeschlossenen Hotel,
vierzehnter Stock, Zimmer 1428“, erzählt sie mir und ich muffele eine
Bestätigung.
„Bin in einer Stunde dort.“
Smartphone weg, raus aus dem Bett und nichts wie ins Bad.
Dieser winzige Raum sieht erstaunlich sauber und ordentlich aus im Vergleich
zum Schlafzimmer.
Duschen, rasieren, Zähne putzen, anziehen, dann verlasse ich
mit Schlüsseln und Portemonnaie das Hotel, um mich auf den Weg zu machen.
Hinter dem heruntergekommenen Haus auf dem Parkplatz steht
mein Leihwagen. Ich steige ein, programmiere den Namen des Hotels in meine Navigationsapp
und fahre los.
Ich muss zugeben, jetzt in der Mittagszeit – ohne Regen und
mit hin und wieder durch die Wolkendecke brechenden Sonnenstrahlen – ist
Hamburg wirklich wunderschön.
Eine Schande, dass mich nicht ein Städtetrip, sondern ein
komplizierter Auftrag hergeführt hat.
Ich benötige weniger lange, als ich dachte, und fahre in die
Tiefgarage unterhalb des Congresszentrums.
Die Fahrt mit dem Aufzug erspare ich mir – enge Metallkästen
an vergleichsweise dünnen Stahlseilen gefallen mir nicht.
Außerdem ist das Treppensteigen ein guter Ausgleich für
Jogging, mit dem ich mich sonst gern fit halte.
Stan öffnet mir die Tür zu einer Suite und ich sehe mich mit
einem verächtlichen Grinsen in dem unglaublich gemütlich und schön
eingerichteten Hauptraum um.
Libby grüßt mich von jenseits eines gewaltigen
Blumengestecks auf dem Esstisch und ich umrunde ihn, um sie zu begrüßen.
Wie immer sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl und
hackt mit fliegenden Fingern irgendwelche Buchstabenfolgen in ihren Laptop.
„Hey, wie war der Flug?“, erkundige ich mich.
„Sehr gut“, erwidert Stan. „Setz dich, wir wollen gleich den
Zimmerservice anrufen, also solltest du dir schon mal was aussuchen.“
Er legt mir eine edel aussehende Karte hin und ich schnaube
überrascht, als ich meine absolute Leibspeise – Cheeseburger mit Fritten –
darauf entdecke.
Ich beschließe, den angegebenen Preis zu ignorieren und Stan
nimmt meine Bestellung auf, bevor er den Zimmerservice anruft.
Libby winkt mich näher.
„Hamburg hat etliche Kameras auf den Straßen, die den
Verkehr überwachen. Aber die Gasse, in der du warst, habe ich natürlich nicht
auf Film gefunden. Dafür die Hauptstraße, über die du da hineinmarschiert
bist.“
Ich sehe über ihre Schulter und blicke auf das Video, das
sie abspielt.
Bevor sie etwas sagen kann, sehe ich den Typen, der mich in
der Gasse angesprochen hat.
Er schleppt zwei Säcke um die Hausecke und verschwindet.
„Er war zu derselben Zeit in der Gasse wie du, Ty“, sagt sie
und klingt besorgt.
Ich nicke und setze mich seufzend neben sie an den Tisch.
Mit beiden Händen fahre ich mir durch mein zotteliges Haar und seufze. „Er muss
mich gesehen haben. In jedem Fall hat er mitbekommen, dass ich zusammengeklappt
und am Boden gelandet bin.“
„Aber nicht, wie du gekämpft hast?“, hakt Stan nach, der
seine telefonische Bestellung beendet hat und näher tritt.
„Doch, ich denke, er hat es gesehen. Aber da er weder meine
Angreifer noch Salvatia sehen konnte, dürfte er mich einfach für einen
verrückten Spinner halten.“
Den Namen meines Schwertes erwähne ich selten, und als ich
es jetzt tue, wird mein rechter Arm warm und ich massiere ihn gedankenverloren.
„Du hast mit ihm geredet? Hat er dich angefasst?“, will Stan
alarmiert wissen.
Ich sehe zu ihm hoch und blinzle, während ich darüber
nachdenke. „Hm, er hat meine Schulter berührt, als ich am Boden lag. Er kniete
neben mir.“
„Merde!“, entfährt es Libby und ich kichere verblödet.
„Seit wann fluchst du auf Französisch?“
„Lenk nicht ab, Ty! Wenn er dich berührt hat, könnte er
Reste von den Angreifern angefasst haben!“, weist Stan mich zurecht.
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich kann es sowieso nicht
mehr ändern!
„Mach mich nicht an, Stan“, sage ich genervt. „Der Typ hat
nichts gesehen, also wird er nach Hause gegangen sein und alles ist gut.“
Nach einer fürchterlichen Nacht reißen mich die im
Dauerbetrieb schrillende Türklingel und heftiges Wummern gegen meine
Wohnungstür abrupt aus dem Schlaf.
„Torben! Mach auf, ich weiß, dass du da bist!“, brüllt
jemand mit panischer Stimme.
Niko! Mein bester Freund und einer der wenigen, der näher an
mich herankommt.
„Boah! Was veranstaltest du denn für ein Theater? Ist jemand
gestorben?“, frage ich mürrisch, nachdem ich ihn reingelassen habe.
Mit in die Seiten gestemmten Armen guckt er mich aufgebracht
an.
„Ja! Ich dachte, du liegst hier tot rum. Weißt du
eigentlich, wie spät es ist?“
Nach einem Blick auf mein linkes Handgelenk verstehe ich,
was er meint. Es ist zehn nach zwei und ich war mit ihm um zehn Uhr zum
Frühstück verabredet.
„Oh verdammt, tut mir echt leid. Ich war die halbe Nacht wach,
weil mich ultramiese Träume immer wieder aufgeschreckt haben.“
„Dann ist es ja gut, dass ich Brötchen mitgebracht habe. Du
hast hoffentlich Belag im Haus?“ Wie eine Trophäe schwenkt er einen Stoffbeutel
vor meiner Nase hin und her.
„Ja, habe ich. Deck schon mal den Tisch, ich springe schnell
unter die Dusche.“
Kaum habe ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen,
überkommen mich Beklemmungen und Angst.
Ich gucke mich um, ziehe sogar den Duschvorhang zur Seite,
aber hier ist niemand.
Der Blick in den Spiegel lässt mich zusammenzucken.
Himmel, ich habe dunkle Ränder unter den Augen und überhaupt
sehe ich aus, als hätte ich drei Wochen nicht geschlafen.
Nach dem Duschen, Zähneputzen und Rasieren bin ich zumindest
halbwegs vorzeigbar.
Allerdings ist das ängstliche Gefühl immer noch da und
begleitet mich auch ins Schlafzimmer, während ich mich anziehe. Erst als ich
wieder im Wohn-Esszimmer stehe, verschwindet es.
Nico war echt fleißig. Der Tisch ist gedeckt, aus den Kaffeebechern
steigt Dampf auf und verbreitet seinen aromatischen Duft.
„Danke, du bist mein Lebensretter“, sage ich albern, um wenigstens
den Eindruck zu erwecken, ich wäre wieder okay.
„Jaja, und jetzt hock dich hin. Ich will wissen, warum du so
scheiße aussiehst. Was ist passiert?“
Nach den ersten Schlucken aus meiner Tasse erzähle ich Nico,
was ich gestern Nacht in der Seitenstraße beobachtet habe.
„Warte, ich zeig es dir.“ Ich springe auf und hole die
Zeichnungen aus dem Arbeitszimmer.
Kurz verharre ich, da mich schon wieder diese komischen
Gefühle überkommen. Anscheinend passiert das, wenn ich allein bin.
Ich ignoriere die körperweite Gänsehaut und gehe wieder zu
Nico.
Er sieht sich an, was ich zu Papier gebracht habe.
„Hast du diese Dämonen oder was auch immer sie sind,
wirklich gesehen?“, fragt er.
„Nein, natürlich nicht. Aber nachdem ich den Kerl gezeichnet
hatte, schwirrten die Bilder der Angreifer plötzlich durch meinen Kopf.“
„Echt genial! Daraus kannst du wirklich was machen. Aber du
hast mir noch nicht gesagt, warum du kaum geschlafen hast.“
Gute Frage. Wenn ich ihm erzähle, wie real diese Monster in
meinen Träumen waren, hält er mich für verrückt.
Ich habe die Viecher gerochen, ihre gutturalen Laute gehört
und sie haben mich umzingelt, mir den Atem geraubt …
Danach bin ich dann jedes Mal schweißgebadet aufgewacht.
Nico sieht mich die ganze Zeit aufmerksam an.
„Ach, Albträume halt. Ich erinnere mich aber nicht an
Einzelheiten“, wiegle ich ab.
Er gibt ein „Hm“ von sich und ich sehe ihm an der
Nasenspitze an, dass er mir nicht glaubt.
Da ich nicht weiter darüber reden will, wechsle ich das
Thema.
Nico ist in erster Linie Illustrator von Kinderbüchern für
einen Verlag. Da man davon allein nicht leben kann, arbeitet er nebenbei für
Werbefirmen und entwirft ansprechende Verpackungen für Nahrungsmittel und Getränke.
Damit hat er auch sein Studium finanziert.
„Wie ist denn bei dir die Auftragslage? Hast du viel zu
tun?“ Hoffentlich lässt er sich damit ablenken.
„Ich kann nicht klagen. Eigentlich habe ich gar keine Zeit,
so lange bei dir rumzusitzen“, erklärt er und lacht.
„Dann sieh zu, dass du deine Brötchen mampfst und dann
verschwindest.“
„Charmant wie immer, Torben. Wundert mich nicht, dass die
Kerle nach einem One-Night-Stand weglaufen.“ Breit grinsend sieht er mich an.
„Ach, jetzt werden wir auch noch persönlich“, pampe ich und
grinse fies.
Er weiß, dass ich es nicht böse meine oder beleidigt bin. So
reden wir immer miteinander.
Eine halbe Stunde später verabschiedet er sich wirklich und sobald
ich die Wohnungstür geschlossen habe, bekomme ich wieder diese Beklemmungen.
Ich suche alle Räume ab und schließe sämtliche Fenster,
sogar die Schlüssel an Schranktüren drehe ich herum.
Es hilft nichts, das miese Gefühl bleibt und sämtliche
Härchen auf meinen Armen stehen zu Berge.
Torben, du hast einen Knall! Geh arbeiten, dann bleibt dir
keine Zeit, über diesen Scheiß nachzudenken.
Ich will nicht hören, was Libby mir am Telefon erzählt, als
ich nach zwei ereignislosen Nächten wieder in der Nähe der Gasse unterwegs bin,
in der der Besiedler mich in eine Falle hat tappen lassen.
Auch wenn mir so etwas wie Angst oder das Gefühl von
aufsteigender Furcht vollkommen abgehen, weil es schlicht nichts zu fürchten
gibt für jemanden, der beinahe in jeder Nacht gegen die fiesesten Dämonen
kämpft, bereiten mir die letzten Ereignisse Sorgen.
Nicht einmal meinen eigenen Tod fürchte ich. Mein Platz in
der Hölle ist längst reserviert und es wird ein endloser Spaß werden,
ausgerechnet mit denen das Nachleben zu verbringen, die ich persönlich in die
Kreise der Hölle geschickt habe.
Ich finde, der Vergleich mit einem erfolgreichen Detective,
der in den Knast gesperrt wird, in dem die Hälfte der Insassen seinetwegen
einsitzen, passt wirklich gut.
Nun ja, ich sollte vielleicht lieber zuhören, was Libby zu
sagen hat.
Gestern haben sie und Stan die Gasse über die
Videoüberwachung im Auge behalten. Der Kleine, der seinen Müll mitten in der
Nacht loswerden wollte, hat sein Haus nur einmal verlassen. Sich dabei ständig
umgesehen, ob ihn jemand verfolgt hat.
Im Gegensatz zu mir ist Libby sehr besorgt und Stan hat sich
bereits zweimal mit mir gestritten, damit ich ihre Sorge ernster nehme.
Fällt mir im Traum nicht ein!
Ich habe das Video gesehen, in dem er wie ein verschrecktes
Kätzchen über den Bürgersteig geschlichen ist.
Vielleicht hat er einfach eine Macke oder er mag seine
Mitmenschen so gern, wie ich meine?
„Libby … Was soll ich deiner Meinung nach machen? In
der Gasse campen und abwarten, ob er wieder auftaucht? Wieso sollte er?“,
meckere ich und sehe mich um, ob mich jemand reden hört.
Libby und Stan sind seit gestern in einem Haus schräg
gegenüber der Gasse und haben bemerkt, dass der mögliche Zeuge meiner
nächtlichen Tätigkeiten manchmal seine Jalousetten auseinanderschiebt, um
rauszusehen.
Insgesamt erscheint Libby dieses Verhalten
besorgniserregend.
Natürlich, sie hat einen sechsten und siebten Sinn für
solche Dinge.
Wenn sie vermutet, dass er mit seiner Berührung an meiner
Schulter ein Tor in die Hölle aufgestoßen hat, durch das er nun heimgesucht
wird, dann ist das durchaus im Bereich des Möglichen.
„Und was, wenn ein Besiedler bei ihm einzieht?! Du klingelst
jetzt bei ihm und fragst, ob er in Ordnung ist!“, schimpft sie mich an und ich
schaffe es nur mit Mühe, nicht nach oben zu ihrem Beobachtungsposten zu sehen
und ihr einen Vogel zu zeigen.
„Du spinnst doch! Libby, wenn du nachsehen und dich
vergewissern willst, dann machst du das. Ich komme, sobald du Hilfe brauchst,
aber ich bin für diese Samariternummer nicht gemacht!“, zischele ich.
„Ich weiß“, sagt sie und die zwei Worte klingen mehr wie ein
tiefes Seufzen.
Stan murrt im Hintergrund, sicherlich hört er zu …
„Stan, du kannst sie begleiten. Wenn ihr was findet, sehe
ich es mir heute Nacht an.“
Noch ist es nicht dunkel, aber es ist bereits nach 18
Uhr.